Penne à la Chef

1. September 2011

Die Stimmung am evangelischen Firstwald-Gymnasium in Mössingen war ein Albtraum: eisige Kälte, Frust und Depression prägten die Schule. Aber dann kam ein neuer Direktor, der die Stimmung mit einem ungewöhnlichen Konzept radikal drehte: Demokratie.

Text: Uwe Amrhein

Gerade hat Helmut Dreher einen Schüler gefeuert. Nachdenklich sinkt er auf seinen Stuhl. „Der Junge hat mir leid getan. Aber auch das gehört zur Demokratie. Wer dauernd Regeln verletzt, schließt sich aus der Gemeinschaft aus.“ Demokratie. Gemeinschaft. Zentrale Werte am evangelischen Firstwald-Gymnasium in Mössingen, und die Regeln bestimmen Schüler, Lehrer und Eltern gemeinsam. Das war nicht immer so in der Kleinstadt auf der schwäbischen Alb.

 

Foto: Theodor Barth/Robert Bosch Stiftung

Bis 2004 herrschten hier eisige Kälte, Frust und Depression. „Alle haben nur auf die Ferien hingearbeitet“, erzählt der 18-jährige Tobias Bock-Viessmann. Er erinnert sich an einen Tag als Fünftklässler. „Der Schulleiter kam zum Unterricht in die Klasse, knallte die Tür hinter sich zu und brüllte: ‚Mund halten!‘ Dabei hatte noch keiner was gesagt…“ Knallende Türen kennzeichneten den Schulalltag in Mössingen. Das Kollegium hatte resigniert, Schüler waren vollkommen eingeschüchtert.

Tobias ist der Traum schwäbischer Schwiegermütter. Ein intelligenter Schlacks mit Wuschelkopf und Dauerlächeln. Einer, der sich engagiert, aber nicht rebelliert. Er ist Segelflieger und im Club Jugendreferent. Seit der Fünften war er fast durchgehend Klassensprecher. Nach dem Abi im kommenden Jahr wird er studieren, etwas in Richtung Politik und Medien. Für so einen war das alte Schulkima pures Gift. Als der Schulleiter den Wunsch der Schüler nach Projekttagen ohne Begründung abschmetterte, war Tobias klar. „Hier bekommst Du nie etwas durch.“
Den Eltern ging es nicht anders. „Absprachen wurden nicht eingehalten, und nachdem dann klare Worte fielen, herrschte totale Funkstille“, berichtet Elternbeirätin Theresia Spribille-Pusch. Ihr Mann war während der Mössinger Eiszeit Elternbeiratsvorsitzender. „Irgendwann wollten wir diesen Schulleiter einfach nicht mehr.“ Er ging schließlich freiwillig. Wie viel Anteil die Eltern daran hatten, wie viel der Schulträger und wie viel das eigene Einsehen, danach will heute niemand mehr gefragt werden.

„Als er kam, war es wie eine Erlösung“

Als Tobias das Büro von Helmut Dreher betritt, begrüßen sich die beiden wie Freunde. Ein Klaps auf die Schulter, eine kurze Umarmung. Lautes Lachen dringt durch die offene Tür zum Lehrerzimmer. Auf Drehers Schreibtisch liegt Tobias‘ Vorschlag für das Unterrichtskonzept im Fach ‚Mensch und Medien‘ für das kommende Schuljahr. Nur noch wenige Tage, dann geht es in die großen Ferien.
„Als er kam, war es wie eine Erlösung. Binnen einer Minute war klar, dass ab jetzt alles anders sein würde“, blickt Tobias zurück. Kann das sein? Kann eine einzelne Person eine ganze Schule lähmen und eine andere sie unversehens wiederbeleben?
Helmut Dreher will das nicht für sich in Anspruch nehmen. „Ich bin hier nicht der Wichtigste“, sagt er. Dreher wirkt ruhig, bedächtig. Aber ein Kumpeltyp ist er nicht. Er gehört zu den Menschen, die Güte und Entschiedenheit zugleich ausstrahlen. Sein Rezept: Kreativität und Mitbestimmung nicht nur zulassen, sondern fördern. „Top-Down-Schulleiter gibt es noch. Aber sie straucheln in der Regel, weil sie sich zwangsläufig selbst überfordern“, ist er überzeugt. „Eine Schule ist nur mit Vertrauen erfolgreich zu führen.

Tobias Bock-Viessmann, Helmut Dreher, Copyright Ulli Rippmann

In Mössingen führt diese Haltung zu ganz praktischen Projekten und Formaten. Im Konvent haben Schüler das gleiche Stimmrecht wie Lehrer. Hier fallen die Grundsatzentscheidungen: Handy-Telefonate auf dem Schulhof, ja oder nein? Wie verwenden wir die 15.000 Euro aus dem gewonnen Schulpreis? Wie sanieren wir den Schulteich?
Ein Schulentwicklungsteam, bestehend aus Schulleitung und allen interessierten Lehrern, entwickelt gemeinsam die inhaltlichen Schwerpunkte. In diesem Jahr sind erstmals Schüler dabei – unter ihnen Tobias. Und für das gesamte Lehrerkollegium endet das Schuljahr erst einen Tag nach dem offiziellen Ferienbeginn. Zuvor steht erst noch eine Klausur in Bad Wildbad auf dem Programm, in der das vergangene Schuljahr reflektiert und das kommende gemeinsam vorbereitet wird.

In einen Sozialfonds zahlt jede Familie drei Euro pro Monat. Zusätzlich füllen weitere Spenden und Erlöse von Festen den gemeinsamen Geldtopf. Am Jahresende verdoppelt der Träger der Privatschule, die Evangelische Kirche, den gespendeten Betrag. Aus dem Fonds werden dann Familien in sozialen Notlagen unterstützt, beispielsweise wenn sie die rund 180 Euro Schulgeld pro Monat nicht zahlen können.
Aus einer Schüler-Idee ist die Sommerschule entstanden. Tobias und Schülersprecherin Maike Fromm (16) haben das Konzept bei einem Workshop aufgeschnappt. Oberstufenschüler, Lehrer und Schülervertretung unterstützen in den Ferien Mitschüler, die im zurückliegenden Schuljahr Probleme hatten. Dabei kombinieren sie Nachhilfe mit Sport, Theater und Ausflügen. „Acht Schüler hätten wir dafür gebraucht. 35 haben sich freiwillig gemeldet“, freut sich Tobias.
Das alles klingt fast zu schön, zu harmonisch. Eine Musterschule im Musterländle? Eine nicht reproduzierbare Insel der Glückseligen? Tobias und Dreher schütteln energisch die Köpfe. „Wir haben die gleichen Probleme und Konflikte wie andere Schulen auch, nur sprechen wir sie jetzt unverzüglich und offen an“, sagt Dreher. Dazu sei es wichtig, Schule als einen politischen Ort zu verstehen.

„Mitbestimmung nicht bloß zulassen, sondern fördern“

Helmut Dreher wuchs in einem Pfarrerhaushalt auf. Der Vater verunglückte kurz vor der Pensionierung tödlich. Beim Stöbern in den hinterlassenen Bücherkisten entflammte Helmut Drehers Interesse für Theologie und Philosophie. Nach seinem Studium arbeitete er als Pfarrer und entdeckte dabei sein Talent als Lehrer. Dreher ging an eine Schule in Tübingen, wurde Schuldekan, wechselte dann als Referent ins Oberschulamt. Eigentlich zu viel Verwaltung für einen Macher, aber eine wichtige Lehre, wie er heute sagt. „Das war die Zeit, als überall Ganztagsschulkonzepte entstanden. Da habe ich viel über Schulprogramme gelernt.“
Mit dieser Erfahrung wollte er eigentlich Chef an einer staatlichen Schule werden. Da erreichte ihn das Angebot der Kirche: Mössingen – ein vergiftetes Klima, eine heikle Mission.

Das Eis brach schon beim Begrüßungsfest. „Die haben mich erst einmal abgecheckt mit einer Band und einem leeren Schlagzeug“, lacht Helmut Dreher. Irgendwer hatte erfahren, dass der Neue Schlagzeug spielt. Er ließ sich nicht lange bitten und jammte mit der Schulband den Bob Dylan-Song „Knockin‘ on Heaven’s Door“.

50 Lehrer, zwölf Referendare, 580 Schüler, 35 davon im Internat. Eine Grundschule und ein Gymnasium mit der zusätzlichen Möglichkeit für Realschul-Absolventen, Anschluss an die Oberstufe zu finden und Abitur zu machen. Auf 56 Plätze in den neuen fünften Klassen kommen rund 130 Bewerber. Das ist die Firstwald-Schule.

Sie haben sich einen kleinen Helden-Status erarbeitet, wenn es um Schule und Mitbestimmung geht. Sie gewinnen Auszeichnungen. Das Gespräch mit der Presse ist Routine. Manchmal klopfen Firmen an und wollen Dreher als Führungskräfte-Coach für gewinnen. Er winkt ab. Sein Rezept sei zu schnell erzählt, um ein Seminar damit zu füllen. Letztlich drehe sich alles nur um ein e Frage: „Die Auseinandersetzung mit Menschen, deren Meinung Du willst, ist sehr anstrengend. Nimmst Du sie auf Dich?“    

Foto: Theodor Barth/Robert Bosch Stiftung

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