Think Big

28. April 2011

Stellen wir uns vor, ein Politikberater würde Angela Merkel vorschlagen, ihren nächsten Wahlkampf mit dem Thema „Neue Bürgergesellschaft“ zu bestreiten. „Gewinnen Sie die Menschen mit einem gesellschaftspolitischen Programm: weniger Macht für den Staat, mehr Verantwortung für Bürger und Kommunen“, würde der Berater der Kanzlerin empfehlen. Völlig undenkbar? Stimmt. Der Mann würde bestenfalls ausgelacht, wahrscheinlich sofort gefeuert. 

In Deutschland gewinnt man Wahlen mit promillegenau berechneten Steuerversprechen. Mit einer gesellschaftlichen Vision, einem Leitmotiv zur Gestaltung des Miteinanders, wäre in der Weltzentrale des Pragmatismus kein Blumentopf zu gewinnen.

Der Blick fällt neidvoll über den Ärmelkanal. Die Briten haben keine Angst vor dem großen Entwurf, und auch nicht vor dem dazu notwendigen Quäntchen Pathos. Premier David Cameron leistet sich ein gesellschaftspolitisches Programm: „Big Society“. Großer Name, großes Kino. Came ron sieht im Abbau zentralstaatlicher Macht zugunsten einer selbst verantworteten Zivilgesellschaft seine eigentliche Mission.

Eine mit 600 Millionen Pfund ausgestattete „Big Society Bank“ soll soziale Start-ups finanzieren. In vier Jahren will Cameron 5.000 Sozialorganisatoren ausbilden lassen.  In einer Haftanstalt in Peterborough haben Investoren fünf Millionen Pfund in „Social Impact Bonds“ investiert und unterstützen damit Häftlinge bei der Wiedereingliederung. Sind die privaten Organisationen erfolgreicher als die staatlichen Bewährungshelfer, bezahlt sie der Staat und die Investition rechnet sich.

Foto: CC BY-NC-ND 2.0 / Nick Atkins / Flickr

Die Briten sind not amused. Big Society gilt bei den meisten gemeinnützigen Organisationen inzwischen als reines Sparprogramm. Es hagelt Kritik. Wenn Bürger Pubs und Lebensmittelgeschäfte vor der Schließung retten und an Stelle der öffentlichen Hand Bibliotheken betreiben, gilt das bei der Mehr¬heit der Bevölkerung als Feigenblatt für Sparmaßnahmen. Zumal die Regierung zugleich Zuschüsse bei den bürgerschaftlichen Organisationen kürzt.

Gut möglich, dass Big Society als politisches Konzept scheitert. Allerdings ist selbst in diesem Fall etwas erreicht, wovon Deutschland weit entfernt ist: Bürgerengagement steht als Top-Thema auf der Agenda. Hierzulande gibt es seit Oktober eine „Nationale Engagementstrategie“, die erstens kein normaler Bürger kennt und die zweitens nicht mehr ist als eine buchhalterische Bestandsaufnahme. Mit Bürgern Staat machen: Das ist in Deutschland ein Nischenthema.

Die Tatsache, dass seine Big Society-Idee David Cameron gegenwärtig um die Ohren fliegt, scheint den Bedenkenträgern Recht zu geben. Ist nicht Tony Blairs „Dritter Weg“ ebenso gescheitert? Und was bleibt von Obamas „Change“, dem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel in den USA?

Wer so argumentiert, beraubt sich selbst der Chance, eine gesellschaftliche Klammer zu setzen, Menschen mit einem Konzept zu begeistern und somit Integration und Teilhabe zu stiften.

Die Bereitschaft zum großen Wurf hängt nun einmal mit dem kalkulierten Risiko des großen Scheiterns zusammen. Drama, Pathos, Emotion… kann man das lernen? Wir gratulieren zur Hochzeit. Und nicht nur dazu.

Text: Uwe Amrhein

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