Das Offline-Parlament

2. Februar 2011

Ausgerechnet der Bundestag will auf Volkes Stimme verzichten. In der hoch gehandelten Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, des Parlaments bleiben Berufspolitiker und Experten unter sich. Dieser Beschluss sorgte vergangene Woche bundesweit für Kopfschütteln. Die Netzgemeinde reagiert auf ihre Weise und führt ihre Volksvertreter vor,  indem sie einfach eigene Beteiligungsinstrumente auf die Beine stellt.

In Rekordzeit ist das iPad zum vermeintlich wichtigsten Arbeitsgerät der Volksvertreter geworden. Selten haben sich die MdBs so lernfähig gezeigt. Allen voran scheint Bundeskanzlerin Merkel kaum noch ihre Finger vom Touchscreen ihres Apple lassen zu können. Presse und E-Mails checken – jederzeit. Sobald es aber um echte Bürgerbeteiligung im Netz geht, wird der Bundestag zum Offline-Parlament.

Bizarres Beweisstück:  Die als Zukunftsschmiede angetretene Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ muss auf digitale Gesellschaft verzichten. Seit Mai vergangenen Jahres ist hier der Austausch über netzpolitische Themen von 17 Bundestagsabgeordneten und 17 Sachverständigen institutionalisiert. Als 18. Sachverständiger sollte der Bürger mit am Tisch sitzen. Von „neuen Chancen für die demokratische Weiterentwicklung unseres Gemeinwesens“ war vollmundig die Rede.

Um auch Meinungen und Sachverstand des Souveräns ins Boot zu holen, fiel im September die Entscheidung, die Software Adhocracy für die eigene Arbeit einzusetzen und damit die Bürgermeinung ungefiltert in den Sitzungssaal zu holen. Die Welt schien in Ordnung. In der vergangenen Woche dann das jähe Ende des Beteiligungsprojekts. Mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP befand die „Kommission für den Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechniken und Kommunikationsmedien“ (IuK) die Kosten in Höhe von rund 80.000 Euro für zu hoch. Diese Kommission wird bezeichnenderweise vom Ältestenrat des Bundestages eingesetzt. Man solle doch auf bewährte Formate wie Blogs und Foren setzen, hieß es.

Dass die Beteiligungs-Fantasie nicht weiter reicht, ist eine Sache. Eine andere ist es, dass der Vorschlag klar dem widerspricht, was die Enquete-Kommission selbst als Anforderungen an ein Partizipations-Werkzeug parteiübergreifend formulierte: Bürger sollten Themen setzen können,  Vorschläge einbringen, kommentieren, bewerten und abstimmen können. Die Enquete-Kommission sollte zum „Experimentierfeld“ für innovative Beteiligungsverfahren werden. Man wollte „die Öffentlichkeit in besonderem Maße in ihre Arbeit“ einbeziehen. Alles passé?

Nicht ganz. Glücklicherweise ist eine aktive Beteiligungskultur nicht allein vom Ältestenrat des Bundestages und parteipolitischem Kalkül abhängig. So haben in einem ersten Schritt die drei FDP-Mitglieder der Enquete-Kommission, Jimmy Schulz, Manuel Höferlin und Sebastian Blumenthal, angekündigt, sie würden auf eigene Kappe auf der Domain www.demokratie.de das Beteiligungs-Instrument Adhocracy aufsetzen und für die Arbeit der Enquete-Kommission zur Verfügung stellen. Gleichzeitig bemühten sie sich in einem dialektischen Spagat, die abschlägige Entscheidung der Parteifreunde zu rechtfertigen.

Noch bevor die drei liberalen Netzpolitiker an den Start gehen konnten, wurden sie rechts von der Netzgemeinde überholt. Einen Tag nach der Entscheidung, die Bürgerbeteiligung zu kippen, wurde eine Adhocracy-Plattform unter dem Arbeitstitel „18. Sachverständige/r der Internet-Enquetekommission“ freigeschaltet. Innerhalb weniger Tage haben sich 70 Bürger registriert und tauschen sich über zentrale netzpolitische Themen aus. Das Logo der Plattform: Ein auf den Kopf gestellter Bundesadler. Das ist programmatisch zu verstehen: Was die Regierung nicht umsetzen will, wird in Rekordzeit von Netzaktiven auf den Weg gebracht. Bürger machen vor, wie direkte Beteiligung funktioniert. Zwei Mitglieder der  Internet-Enquete sind inzwischen Mitglied der Plattform geworden.

Internetnutzer @chriszim fragt zu Recht auf Twitter: „Wo bleibt der Rest?

 

Henrik Flor

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