“Es braucht Empörung und Mut.” – Gerlinde Unverzagt im Interview

1. September 2011

Mit dem „Lehrerhasserbuch“ hat die Autorin und Journalistin Gerlinde Unverzagt eine ganze Generation von Lehrern gegen sich aufgebracht und vielen Eltern und Kindern aus der Seele gesprochen. In ihrem aktuellen Buch „Eltern an die Macht“ fordert sie ein Ende der schulischen Bevormundung. Wie es sich genau verhält mit dem „Ungleichgewicht des Schreckens“ an deutschen Schulen, erklärt sie im Enter-Interview. 

Frau Unverzagt, eigentlich herrschen an deutschen Schulen traumhafte Zustände: Eltern renovieren Klassenräume, begleiten Ausflüge, engagieren sich. Welches Haar haben Sie in der Suppe gefunden?

In der Tat: traumhafte Zustände – vor allem für die Lehrer. Wenn die Eltern sich um alles kümmern, dann ist der Lehrer ja enorm entlastet. Die Eltern dürfen mitarbeiten, haben aber nichts zu entscheiden. Unter dem Signum „Mitbestimmung“ findet etwas statt, was eigentlich nicht mehr ist als eine Simulation von Mitbestimmung. In diesem Ungleichgewicht des Schreckens bestimmen Schulleitung und Lehrer, wo und wie Eltern mitreden dürfen. Das Wort „Mitbestimmung“ ist verräterisch. Es stammt ja aus der Betriebsverfassung und meint das Recht der Untergebenen, ihren Arbeitsalltag mitorganisieren zu dürfen. Mitbestimmung soll die Unterordnung unter fremde Organisationsgewalt und die damit verbundene Fremdbestimmung mildern, doch sie zementiert damit ein klares Machtverhältnis. Das ist derart beamtoid und so amtsschimmelig, dass es mit einem Dialog auf Augenhöhe nichts zu tun hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Regt sich kein Widerstand?

Glücklicherweise muss Schule inzwischen immer mehr zur Kenntnis nehmen, dass es engagierte Eltern gibt, die mitreden und mitbestimmen wollen. Jetzt ist ein günstiger Moment, um diesmal grundsätzlich zu diskutieren. Man muss auch über negative Erscheinungen, wie Leistungsdruck oder schlechtes Benehmen von Lehrern, sprechen dürfen. Es kann nicht sein, dass Eltern weiterhin so ignoriert, abgekanzelt und verteufelt werden wie in den letzten Jahren.

Warum empören sich nicht mehr Eltern?

Vielleicht hat es damit zu tun, dass Eltern auch selbst einmal Schüler waren und Lehrer immer noch als Autoritätspersonen wahrnehmen. Wer selbst schlechte Erfahrungen mit Lehrern gemacht hat, bei dem wird das eigene Unbehagen durch die Schulzeit der Kinder wiederbelebt. Die deutsche Untertanenmentalität tut das Ihrige. Schule ist ja nur einer von vielen Bereichen, in denen man sich wundert, wie viel die Leute mit sich machen lassen. Es braucht eine Menge Empörung und auch Mut, sich mal Luft zu machen, zumal wenn ein Lehrer in der Nähe ist.

Hat es mit der Angst um Machtverlust zu tun oder schlicht mit Arbeitsökonomie, wenn Eltern und auch Schülern Mitsprache so systematisch verweigert wird?

Auf der persönlichen Ebene kann das unterschiedliche Gründe haben. Auf der strukturellen Ebene bedeutet es in der Tat Machtverlust. Aber die derzeitige Machtfülle von Lehrern und das Ausschließen der Eltern führen ja ganz offensichtlich nicht zur Verbesserung der Verhältnisse. Da muss man auch an Dinge wie den Beamtenstatus ran. Solange Lehrer wissen, dass sie am längeren Hebel sitzen, perlt Kritik sehr effektiv ab. Sicher würde sich etwas ändern, wenn Lehrer entsprechend ihrer Leistung bezahlt würden. Wie oft bin ich schon aus der Haut gefahren, nachdem mir meine Kinder aus der Schule berichtet haben. Ich dachte nur: Herr, schmeiß Hirn vom Himmel! Dabei gibt es genug Beispiele für sehr gute Lehrer. Die zeigen: Es geht auch anders!

Nun erlebt man aber auch, dass sich Eltern nicht gerade darum prügeln, Ämter in der Schule zu übernehmen. Wie groß ist das Engagement wirklich?

Für diese Zurückhaltung gibt es viele Gründe. Zuerst haben Eltern schlicht auch eine Menge anderer Dinge zu tun. Das Amt des Elternvertreters – auf Konferenzen und in Gremien abhängen – ist einfach nicht sexy und macht auch keinen Spaß. Ich halte es für falsch, aus der mangelnden Begeisterung zu schließen, dass sich Eltern nicht engagieren wollen. Wie verlockend ein solcher Job ist, hängt dabei ganz stark von der jeweiligen Schule und dem dortigen Klima ab. Wenn sich Eltern engagieren wollen, müssen sie die Möglichkeit dazu bekommen, aber genauso muss man ihnen zugestehen, sich bei solchen Ehrenämtern zurückzuhalten. Das Gleiche gilt für die freiwilligen Arbeitseinsätze am Wochenende. Jeder der sagt, es macht Spaß, an einem Samstag dem Klassenraum eine Grundreinigung zu verpassen, der lügt.

Wie erleben Schüler dieses System?

Kinder haben auch mit sechs Jahren schon eine große Routine mit fremdbestimmten Verhältnissen. Der Schritt in die Schule wird furchtbar dramatisiert, es wird gefragt, ob die Seele des Kindes Schaden nimmt. Diese Befürchtungen sind mit jeder Menge Alt-68er-Schmus übergossen. Kinder wollen in die Schule, weil sie groß werden wollen. Wettbewerb und Rivalität gehören dazu. Sie sind viel entspannter, was beispielsweise die Vergabe von Noten angeht.

Nun gibt es aber wenig erbauliche Zahlen, wie viele Kinder Angst vor der Schule haben, regelmäßig Medikamente schlucken, psychosomatische Probleme haben …

Damit sind wir wieder bei den Lehrern. Neugier, Freude und Motivation gehen schon in der Grundschule baden durch Entscheidungen von Lehrern, die keiner versteht oder durch einen respektlosen Umgangston. Zuhause kennen Kinder diskussionsfreudige Eltern, die jedes Verbot zehn Mal erklären, in der Schule wird verordnet. Dafür haben Kinder ein sehr feines Gespür, sie sind die Experten in Sachen Lehrerbeurteilung. Die Lehrer, die es schaffen, das Pflänzchen Motivation zu hegen und zu pflegen, unterrichten die glücklicheren Kinder.

Schule wird gerne als Lernort für Demokratie beschworen. Funktioniert das, wenn Schüler Beteiligung nur theoretisch im Politikunterricht kennenlernen?

Das ist natürlich Augenwischerei. Wie Demokratie funktioniert, erfährt man nicht durch das Auswendiglernen von Fakten über das politische System. Das müssen Kinder erleben. Ein schönes Beispiel: die Schulordnungen. Die können noch so demokratisch zustande gekommen sein, wenn man einmal erlebt hat, dass sich ein Lehrer darüber hinwegsetzt, war alles umsonst. Dann lernen Kinder, dass man Demokratie nennt, wenn ein anderer darüber bestimmt, was man tun soll. Schule ist noch immer weitgehend wie eine Unternehmung aus dem vorletzten Jahrhundert strukturiert. In Sachen tatsächlicher Beteiligung kann man an einer durchschnittlichen Schule nichts lernen. Wenn eine Atombombe fällt, sollte man sich schnell in die nächste Schule flüchten, denn da passiert alles 100 Jahre später.

 


Das Interview führte Henrik Flor, Fotos: Marvin Zilm

 

Eltern an die Macht. Warum wir es besser wissen als Lehrer, Erzieher und Psychologen. Ullstein TB, 240 Seiten, Euro 8,99.

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