Interview Gerhard Matzig

1. März 2013

Gerhard Matzigs Beobachtungen sind harter Tobak. Deutschland ein Land, das sich entweder aggressiv oder depressiv anfühlt, das Hass auf auf die Zukunft verspürt. Dominiert von saturierten alten Männern, die keine Zukunft haben und deshalb jede Innovation abwürgen.

Enter: Wie kommen Sie zu ihrem drastischen Befund?

Gerhard Matzig: Durch die Tugend der Beobachtung. Ich war als Kulturreporter immer wieder an den Schauplätzen, an denen sich wutbürgerliche Energie entladen hat. Gerade der Protest gegen Projekte der Energiewende – Pumpspeicherkraftwerke oder Windkraftanlagen – hat mich interessiert. Ich war also an vielen Orten, an denen es um die Gestaltung der Zukunft ging. Wer protestiert dort und aus welchen Motiven macht er das? Aus den Beobachtungen vor Ort habe ich dann ein Buch destilliert.

Enter: Wie steht es mit der Motivation dieser Protestierenden?

Matzig: Man muss unterscheiden zwischen dem ganz normalen demokratisch gesonnenen Mitbürger, der an der Gestaltung der Zukunft ein großes Interesse hat, und dem sogenannten Wutbürger, einer radikalen Minderheit dieser Protestierenden. Dieser verschließt sich Argumenten und will aufgrund seines Alters oder aus nostalgischen Gründen keine Veränderung. Wir haben es meist mit einer Gemengelage zu tun: Da gibt es die egoistischen Motive – „Ich möchte nicht, dass die Flugroute über mein Haus führt“. Hinzu kommt dann oft eine moralische Argumentation: „Fliegen ist ja ohnehin unökologisch“. Das ist etwas, was aussieht wie bürgerschaftliches Engagement, was aber, wenn man genauer hinschaut, ein ganz egoistisches Interesse ist, zum Beispiel der Erhalt des Grundstückwertes.

Enter: Das berühmte Sankt-Florians-Prinzip, das im Gewand einer Bürgerinitiative daher kommt?

Matzig: Es gibt ja in den USA dieses Phänomen „Nimby Wars“. Nimby steht für „Not in my Back Yard“, zu Deutsch: „nicht in meinem Vorgarten“. Es beschreibt die Bürger, die Veränderungen ablehnen, wenn sie selbst unmittelbar davon betroffen sind. Sie erkennen ein größeres gesellschaftliches Interesse, zum Beispiel den Bau einer Stromtrasse, von der viele profitieren würden, nicht an. Sobald die unmittelbare Umgebung tangiert ist, wird das nicht akzeptiert. Früher gab es einen größeren gesellschaftlichen Konsens. Dieser löst sich jetzt aber immer mehr auf – übrig bleiben Partikularinteressen.

Enter: Erleben wir heute einen Protest, der weniger altruistischer ist, als der in den 80ern?

Matzig: Ich glaube, dass früher der Protest politischer war. Ich war auch auf mancher Anti-AKW-Demo. Dahinter steckte eine klare politische Überzeugung. Heute erleben wir einen Event- Protest. Das hat etwas von einer Party für ältere Mitbürger, die es schick finden, auch mal auf die Straße zu gehen. Ich habe auch Demonstranten getroffen, die nicht genau wussten, wogegen gerade protestiert wurde.

Enter: Wie bringen es Protestierende argumentativ zusammen, dass sie eigentlich für die Energiewende sind, aber die Stromtrasse im Ort ablehnen?

Matzig: Ich bin mal einem pensionierten Apotheker aus dem Schwarzwald begegnet. Der führte eine Bürgerinitiative gegen den Bau eines Pumpspeicherkraftwerkes an. Für die Energiewende ist das ein wichtiger Baustein, um Strom zu speichern. Dieser Apotheker hat dann ein geologisches Gutachten erstellen lassen, das feststellt, dass man sich in einem Erdbebengebiet befinde. Eine völlig absurde Argumentation. Kein Gebiet auf der Welt ist absolut erdbebensicher, die Wahrscheinlichkeit, dass dort in den nächsten Tausend Jahren etwas passiert, ist an den Haaren herbeigezogen. In einem Gespräch stellte sich dann heraus, dass es noch ein anderes wichtiges Argument gab, was aber nicht so laut postuliert wurde: Der Apotheker besitzt in der Nähe ein Ferienhaus, von dem aus er dann auf das Pumpspeicherkraftwerk gucken würde, und dies möchte er nicht. Der ist bis heute wütend auf mich, weil ich dies publik gemacht habe.

Enter: Ist diese Form des Protestes gegen Infrastrukturmaßnahmen noch Engagement oder gesellschaftliche Teilhabe?

Matzig: Es ist vor allem die Lust am Aufruhr. Es ist ein Aufbegehren, es sich nicht mehr gefallen zu lassen. „Die da oben“ sind alle irgendwie bösartig, ebenso wie ‚die Wir tschaft“, „die Medien“ oder „die Industrie“. Man selbst stilisiert sich zum David, der gegen Goliath zu Felde zieht, man ist das gallische Dorf, das Widerstand leistet.

Enter: Diese breite Protestfront bremst Innovationen also erst einmal aus…

Matzig: Ja, das ist so. Ich war viel im Land unterwegs und habe in jeder noch so kleinen Gemeinde erfahren, dass es dort ein kleines Stuttgart 21 gebe: irgendein Projekt und sei es ein Wohnungsbau, der seit Jahren umstritten ist und worüber sich ganze Gemeinden entzweien. In einer Gemeinde in Oberbayern streitet man seit Jahren über sechs Kastanien, die gefällt werden sollen oder eben nicht. Das ist ein Riss, der durch die ganze Gemeinde geht.

Enter: Ist das auch eine Form von Ressourcenverschwendung auf der individuellen Ebene, wenn man Zeit und Energie nicht mehr ins klassische Ehrenamt steckt, sondern sich für oder gegen Kastanien aufreibt?

Matzig: Ja, vor allem, wenn es nicht mehr angemessen ist. Wenn es zum Beispiel um die Verlegung eines Buswartehäuschens geht. Das kostet unglaublich viel Zeit, Energie und Kommunikation. Es ist eine Idiotie, die es nur in einem sehr reichen, wohlhabenden Land wie Deutschland geben kann, das aus sehr kleinen Problemen sehr große macht. Engagement ist richtig, aber nicht bei jedem kleinen Eingriff notwendig. Häufig sind es ja für die Gesamtheit sinnvolle Dinge, die blockier t werden. Manchmal muss man Veränderungen auch einfach akzeptieren. Das war früher einfacher. Heute ist das Private unglaublich wichtig geworden und das Öffentliche ziemlich unwichtig.

Enter: Perspektivisch: Steuern wir auf eine „Gerontokratie“ zu?

Matzig: Im Moment sehe ich es tatsächlich relativ düster. Viele Politiker scheinen durch die Protestfront komplett verunsichert. Sie gehen falsch mit dem Protest um, trauen sich nicht mehr, eine Haltung zu haben. Man hört kein „Dafür stehe ich“ mehr, sondern man beugt sich dieser Trillerpfeifen-Demokratie, in der sich Stimmungen ganz schnell aufbauen, aber auch wieder verschwinden. Das führt zu keiner guten politischen Kultur. Allerdings sind dies eben modische Mechanismen, und Moden gehen auch wieder – das wird allerdings noch dauern. Während der Energiewende wird die Lage erst noch weiter eskalieren.

Gerhard Matzig ist Architekt und arbeitet seit vielen Jahren für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. In seinem Buch „Einfach nur dagegen“ nimmt er den empörten Protestbürger aufs Korn.

 

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