Vergesst Sarrazin – die neuen Gesichter des Islam

25. Februar 2011

 Durch die Feuilletons der Republik tobt immer noch der Streit über die Thesen Thilo Sarrazins. “Islamkritiker” und die Kritiker der Kritiker liefern sich heftige Gefechte. Dabei ist die Weltgeschichte über die deutschen Studierzimmerkämpfe inzwischen hinweggefegt. Die Revolutionen in Tunesien, Ägypten und, besonders blutig, in dieser Woche in Libyen verändern das Ansehen der Muslime in Deutschland. Die Erkenntnis: Auch “Kopftuchmädchen” treten mutig für ihre Rechte ein. Das hilft auch dem Engagement für Integration in Deutschland.

Kazim Erdogan schenkt Tee aus einer typischen türkischen Metallkanne ein, die die Küche seines Hauses in Berlin-Rudow dominiert. Auf dem Schreibtisch des 58-jährigen Psychologen stehen zwei Flaggen: die Deutschland-Fahne und die mit dem Halbmond. Erdogan kam vor 36 Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Seine zahlreichen Integrationsprojekte im Berliner Problem-Bezirk Neukölln sind vielfach ausgezeichnet worden. „Die Entwicklungen freuen mich sehr“, sagt er und meint die Revolutionen, die in diesen Wochen die arabischen Staaten überrollen, aber auch die Folgen für das Ansehen der Muslime in Deutschland. Auf dem Titel des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ symbolisierte in der vergangenen Woche eine demonstrierende Frau auf dem Tahir-Platz in Kairo ein anderes Bild von Muslimen: Powerfrau statt Kopftuchmädchen. Die Volksaufstände in Tunesien und Ägypten haben eine Welle der Sympathie ausgelöst, die Muslime auch in Deutschland spüren. So wie der Mauerfall und die friedliche Revolution in der DDR das Ansehen Deutschlands verändert hat, könnten die Massendemos in Kairo, Tunis und zuletzt der Kampf der Libyer gegen ihren Unterdrücker das Image der Muslime verändern.

Denn das wurde seit dem 11. September 2001 immer schlechter. Ein Tiefpunkt war im vergangenen Jahr mit Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ erreicht. Der SPD-Politiker postulierte in Interviews, muslimische Einwanderer „produzierten“ nur „Kopftuch-Mädchen“. Millionen Leser schienen solche und ähnliche Gedanken zu teilen. Das ärgert Kazim Erdogan, wie wohl die meisten deutschen Muslime: „Der Mann ist mit seinen Thesen mehrfacher Millionär geworden. Das zeigt, wie hoch die Zustimmung zu seinen Vorurteilen in der deutschen Gesellschaft ist – auch wenn es nicht ‚politically correct‘ ist, das offen zuzugeben“, sagt er. Er hätte sich mehr Unterstützung von den Deutschen gewünscht.
„Bedenkt man, wie viel Zeit Sarrazins Thesen in den Medien gewidmet wurde, wird über die demokratische Bewegung in den arabischen Ländern wenig berichtet. Aber nun sieht die westliche Welt junge Leute, die sich über Facebook und Twitter organisieren, um politische Rechte zu erkämpfen. „Da leben nicht nur ‚bildungsferne‘ Menschen, die sich für Politik nicht interessieren“, sagt Erdogan, das machen diese Bilder offensichtlich.

Omar Sherif, 35, hat tunesische Eltern, ist selbst aber in Deutschland geboren. Der alleinerziehende Vater leitet eine islamische Männergruppe, in der über Erziehungsfragen und natürlich auch die politischen Entwicklungen gesprochen wird. „Meine deutschen Freunde sind sehr froh darüber, was passiert ist. Ich fühle mich auch stolz“, sagt er, den die Diskussionen des vergangenen Jahres auch beschäftigten. „Sarrazin mit seine Thesen war ein Provokateur – aber ich glaube, er hat nur aufgeschrieben, was viele Deutsche in ihren Herzen trugen.“
In Reaktion auf Sarrazins Thesen fraßen viele Muslime ihren Ärger in sich hinein. Sie wollten lieber nicht auffallen, indem sie öffentlich ihren Glauben verteidigen. Nun könnten sich Muslime in Deutschland ermutigt fühlen, sich mehr gesellschaftlich einzubringen und ihre Interessen, zum Beispiel nach Sprachkursen und Gebetsräumen, mit neuem Selbstbewusstsein zu vertreten.

In einem sind Muslime in Deutschland sich einig. Sie hoffen, dass die Deutschen sehen: Islamischer Glaube und Demokratie schließen sich nicht aus. Aber viele sind noch unsicher, ob die neuen Sympathien für Muslime bleiben werden.

Bei einer Neuköllner Beratungsstelle für Familien arbeitet Safie Seyda, eine Sozialwissenschaftlerin aus Syrien. „Die Entwicklungen sind frisch, wir stehen alle unter einem positiven Schock“, sagt sie. Die 53-Jährige lebt seit 30 Jahren in Deutschland und hat sich vor zehn Jahren für die deutsche Staatsangehörigkeit entschieden. Sie arbeitet überwiegend mit arabischen Familien. Ein Foto von sich will die sie nicht veröffentlicht sehen. „Meine Familie lebt noch in Syrien. Wir hoffen, wir warten, dass dort auch etwas passiert. Aber die Lage ist ungewiss, ich will meine Familie schützen.“ Es sei zu früh zu sagen, wie die Ereignisse das Verhältnis von Deutschen und Muslimen und das Image des Islams ändern. „Ich hoffe, dass sich die Einstellung verbreitet: Islam und Demokratie, das geht zusammen.“ Es hat Seyda besonders gefreut, dass auch viele Frauen demonstriert haben. „Nicht so viele wie die Männer, aber immerhin. Es gab Frauen mit Kopftuch und Frauen ohne Kopftuch, das war egal. Es war schön zu sehen, wie Frauen vor den Fernsehkameras laut ihre Freude und ihre Forderungen ausgedrückt haben.“ Vielleicht gibt es mehr Akzeptanz dafür, dass das Kopftuch zur Identität einer Frau gehören kann und kein Zeichen ist, dass sie sich weigert, sich zu integrieren“, wünscht Seydan sich. „Man kann als Frau Kopftuch tragen, wenn man will – und trotzdem selbstbewusst für seine Rechte eintreten.“

Bis vor Kurzem galten Menschen aus der islamischen Welt als Analphabeten, fatalistisch, fundamentalistisch, als Völker, mit denen Despoten leichtes Spiel haben. Seyda ärgern solche Pauschalurteile, sie wünscht sich Differenzierung: „Es gibt nicht ‚den Muslimen‘, es gibt Muslimbrüder, die einen Gottesstaat wollen, aber auch westlich orientierte Intellektuelle, die Demokratie und Menschenrechte wollen.“

Skeptischer klingt Esra Kücük. Die 27-Jährige hat gerade im Auftrag der Stiftung Mercator und der Humboldt-Universität eine „Junge Islamkonferenz“ mitorganisiert. Ihre Eltern sind aus der Türkei nach Deutschland eingewandert. Einen direkten Wandel im Image des Islam konnte sie bislang nicht beobachten. „Es braucht Zeit, bis Vorurteile verschwinden. Gerade die Sarrazin-Debatte hat in Deutschland lebende Muslime verunsichert.“ Sie konnten es nicht verstehen: Vorher waren sie in Deutschland geborene Kinder von ägyptischen, türkischen oder marokkanischen Eltern. Nun gab es durch Sarrazins Pauschalisierungen ein neues Bild: Sie waren nun alle „Kind muslimischer Eltern“. Das war verwirrend, sie hatten sich in erster Linie als junge Deutsche gesehen. Wenn sich die Erkenntnis durchsetzt: Demokratieverständnis und Islam können zusammengehen, können die Muslime selbstbewusster werden.

 

Dass sich das Bild der Muslime tatsächlich verändert, glaubt dagegen Florian Kohstall, der das Verbindungsbüro der Freien Universität Berlin (FU) in Kairo leitet. Kohstall erhält zum Beispiel auf einmal zahlreiche Anfragen für Arabischkurse in Kairo und Austauschsemester an der Kairoer Universität. Viele Studierende dort nahmen an Solidaritätskundgebungen und Mahnwachen teil. „Die Ereignisse haben bei den deutschen Studenten einen sehr nachhaltigen Eindruck hinterlassen“, sagt er. Nicht nur bei ihnen.

Annette Leyssner

 

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