Dieter Rucht: Nein-Sager-Republik

1. Februar 2013

Prof. Dieter Rucht hat wenige Nimbys kennengelernt. Oft gibt es viele Gründe für ein Dagegen. Den Protest von technisch und juristisch versierten Menschen nennt er eine Bereicherung, die schon jetzt viele Defizite der Energiewende aufgedeckt und Lösungen entwickelt haben.

Enter: Alle schienen sich einig: Nach der Fukushima-Katastrophe sollte die Energiewende kommen. Gegen die nötigen Infrastrukturprojekte wie Stromtrassen oder Windräder gibt es nun aber massiven Widerstand vor Ort. Ist es der berühmte Wutbürger, der hier auf die Barrikaden geht?

Dieter Rucht: Man findet den Wutbürger zwar in den Reihen der Protestierenden, aber das Bild ist stark übertrieben und geprägt von den Berichten über Bürgerproteste wie Stuttgart 21 und einzelne, diesem Bild entsprechende Personen. Hervorgehoben werden alte, gut situierte und wertkonservative Bürger, die sich gegen jede Form von Veränderung sträuben. Dieser Typus steht sicher nicht für die Gesamtheit der Protestierenden. Bei Themen wie Atomkraft und Energie sind auch viele junge Leute unter den Aktivisten.

Enter: Bleiben wir bei der Energiewende. Was treibt die Menschen an, die heute gegen den Bau von Windrädern oder neue Stromtrassen protestieren?

Dieter Rucht: Die Gründe dafür sind sehr vielschichtig. Man findet alles Mögliche an Motiven, manchmal sogar in einer Person. Da gibt es auf der einen Seite das Interesse, Nachteile von sich fernzuhalten. Das kann beispielsweise die Grundstücksentwertung durch eine zusätzliche Flugbahn sein. Da gilt, dass einem das eigene Hemd am nächsten ist. Dies mischt sich auf der anderen Seite oft mit anderen Motiven. So kann ich eine Flughafenerweiterung aus ökologischen Gründen ablehnen. Die Entscheidung, ob ich protestiere oder nicht, treffe ich fast nie auf der Basis eines einzigen Grundes.

Enter: Werden Gemeinwohl-Argumente bei den Protesten auch vorgeschoben?

Dieter Rucht: Es kommt vor, dass Gemeinwohlinteressen vorgeschoben werden, obwohl eigentlich ein persönliches Interesse hinter dem Protest steht. Man sucht dann juristische Schneisen, um Projekte insgesamt zu verhindern. Wenn Bürger die Energiewende aus rein eigennützigen Gründen hinauszuzögern versuchen, dann ist das eine bornierte Haltung. Aber häufig mischt sich diese St. Florians-Haltung mit einer Gemeinwohlorientierung.

Enter: Aber wie glaubwürdig ist das Bekenntnis zur Energiewende einerseits und der Protest gegen die Umsetzung vor Ort andererseits?

Dieter Rucht: Das Gros der Protestierenden verschließt sich ja nicht prinzipiell der Energiewende. Es geht dann eher darum: Wie wird diese Energiewende in der Praxis vollzogen? Da gibt es großtechnische Lösungen, aber auch dezentrale Visionen, die zum Beispiel keine längs durch ganz Deutschland verlaufende Stromtrassen brauchen und sinnvoll sein können.

Enter: Wenn überall Protest entsteht: Wo werden am Ende die Stromtrassen gebaut? Dort wo am wenigsten laut gebrüllt wird?

Dieter Rucht: Ja, das kann durchaus passieren, wobei man nach einzelnen Vorhaben unterscheiden muss. Bei Windrädern ist es eher möglich, alternative Standorte zu finden. Dagegen sind Pumpspeicherwerke nur an bestimmten Stellen möglich. Auch können die großen Stromtrassen schwerlich mit großen Umwegen verlaufen; da sind die Spielräume sehr viel enger. Generell gilt aber, dass sich Politik auch danach richtet, wo der geringste Widerstand droht.

Enter: Was halten Sie den Protesten im Zuge der Energiewende zugute?

Dieter Rucht: Die Proteste mögen punktuell borniert sein, haben aber in ihrer Gesamtheit doch eine korrigierende Funktion. Sie machen auf Probleme  aufmerksam. Die Planer beim Netzausbau sitzen oft weit entfernt von den Betroffenen. Da hilft es, wenn die Leute vor Ort auf etwaige Probleme hinweisen. Letztlich geht es meist um einfache Punkte wie die Frage, ob die Trasse so nahe an der Grundschule gebaut werden muss? Ein Schlenker stellt keine prinzipielle Veränderung des Vorhabens dar. Viele Initiativen behalten am Ende recht: Planungen sind oft überzogen – das hat man schon bei den gigantischen Energieplänen aus den 70er Jahren gesehen, die nachträglich erheblich zurückgestuft wurden. Insofern hat ein guter Teil der Proteste eine nützliche Funktion.

Enter: Ist jeder Protest auch Engagement? Oder braucht Engagement eine altruistische Grundierung, eine Gemeinwohlorientierung?

Dieter Rucht: Wenn sich jemand durch ein Windrad beeinträchtigt fühlt, das ihm den schönen Ausblick versperrt, dann ist das ja eher ein ästhetisches Problem. Wenn aus dieser Haltung heraus solche Anlagen unmöglich gemacht werden, ist das eine bornierte Haltung. Aber wenn man genauer hinsieht, sind es doch oft auch andere, rationale Motive. Am Ende ist Protest aber immer eine Form politischer Teilhabe.

Enter: Hat Deutschland ein Problem mit Innovationen?

Dieter Rucht: Eine Reihe von Umfragen hat ergeben, dass im Vergleich zu anderen Ländern die Vorbehalte gegen Innovationen in Deutschland nur in sehr geringem Maße stärker sind. Eine Technikphobie lässt sich überhaupt nicht belegen. Deutschland ist definitiv keine Neinsager-Republik. Vielleicht wird einiges verhindert, aber sehr vieles auch realisiert.

Prof. Dr. Dieter Rucht war bis 2011 Ko-Leiter der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Er gilt als einer der renommiertesten Protestforscher in Deutschland.

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