Editorial – Abseitsstellung
Bei Facebook fand ich vor ein paar Tagen den Aufruf, die Fußball-Weltmeisterschaft zu boykottieren. Zuerst habe ich mich gefragt, wie ich das überhaupt anstellen soll. Ich bin weder Politiker noch Funktionär und habe folglich gar keine Einladung nach Brasilien erhalten, die ich unter Protest und Herausgabe einer wortgewaltigen Presserklärung hätte ausschlagen können. Dann las ich weiter. Der Facebook-Aktivist meinte mit Boykott tatsächlich den ganz persönlichen Verzicht auf Fußball im Fernsehen. Besonders um Public Viewing in Stadien, auf Plätzen und Fanmeilen solle man einen großen Bogen machen.
Schade eigentlich, denn ich mag Fußball. Ich finde auch gemeinschaftliche Begeisterung gut – übrigens nicht nur, wenn es ums Kicken geht. Und wenn ich schon am Beichten bin: Ich freue mich auch, wenn die Deutschen gewinnen, aber bitte, liebe Leser, sagen Sie das nicht weiter.
Darf man das? Fußball gucken trotz der sozialen Missstände in Brasilien, trotz des korrupten Altherrenvereins namens FIFA und geschundener Arbeiter auf den Stadionbaustellen in Katar? Keine Frage: Diese Auswüchse bereiten Sorge und stimmen nachdenklich. Nicht viel weniger ängstigen mich allerdings die erhobenen Zeigefinger der moralischen Perfektionisten. Stets demonstrations- und protestbereit, vegan, nichtrauchend, nichttrinkend, lückenlos allgemeingebildet… puh, Leute, ich schaffe das einfach nicht. Zumindest nicht gleichzeitig. Und mal ehrlich: Wem hilft es wirklich, wenn ich heute Abend eine Dokumentation mit Untertiteln auf arte anschaue, anstatt Thomas Müller zu bejubeln?
Engagement findet im öffentlichen Raum statt. Es geschieht durch Tun und nicht durch Unterlassen. Und ganz wichtig: Es erhebt keinen Anspruch auf Perfektion und Vollständigkeit. Und deshalb ist mir der unkritisch jubelnde Fußballfan, der sich jedes Wochenende für die Betreuung seiner Jungendmannschaft im Verein den Allerwertesten aufreißt, allemal lieber als jemand, der allein zu Hause unter Protest den Fernseher ausschaltet.
So, genug jetzt. Gleich ist Anpfiff.
Uwe Amrhein ist Herausgeber der Enter.
7. Juli 2014 zu 09:30
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Das ging mir letztens ähnlich, als mir jemand sagte, er würde Public Viewing beim Fußball ablehnen, weil es die Zustände in Brasilien nur unterstützt. Ich bin also erleichtert, dass es nicht nur mir so geht: Ich genieße liebend gerne den WM-Sommer bei einem kühlen Bier in einer Kneipe und setze mich am Tag darauf dann wieder an meinen Schreibtisch und versuche, die Welt zu verändern. Dort, wo ich ich realistisch etwas bewegen kann.