Interview mit den Machern der Demografiestudie

7. April 2011

Deutschland schrumpft weiter. Seit 2002 ist die Einwohnerzahl um 800.000 gesunken. Im Jahr 2050 werden nur noch 70 Millionen Menschen in der Bundesrepublik leben, ein weiterer Verlust von zwölf Millionen Einwohnern. Das ist so viel wie die Bevölkerung der fünf größten Städte zusammen. 

Das Berlin-Institut und der Generali Zukunftsfonds haben den aktuellen „Bericht zur demografischen Lage der Nation“ vorgelegt. Er liest sich wie ein Krimi: Das Aussterben ganzer Dörfer und Kleinstädte ist nicht mehr zu verhindern. Der Westen verliert seinen Vorsprung. Engagement kann die Folgen mildern – aber nur, wenn die Politik die Bürger machen lässt.

Dr. Reiner Klingholz ist Chef des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Gemeinsam mit seinem Kollegen Dr. Steffen Kröhnert hat er den Bericht zur demografischen Lage der Nation erarbeitet. Im Gespräch mit Enter stellen die Autoren der Politik ein schwaches Zeugnis aus.

Zur Studie

Klingholz & Kröhnert

Sie nennen es beim Namen: Wir werden verwaiste Dörfer und entvölkerte Regionen erleben. Es gibt keine Möglichkeit mehr, das zu ändern. Ist der Politik diese Dramatik bewusst?

Klingholz: Die Politik kennt die Lage im Lande natürlich. Aber über Schrumpfen und sterbende Dörfer zu reden ist nicht eben beliebt. Stattdessen schürt die Politik lieber die Illusion, Wachstum oder Stabilität mit Fördermitteln generieren zu können.

Bewusste Augenwischerei, oder glauben Politiker wirklich, dass sich irgendwie noch alles regelt?

Kröhnert: Im Osten glaubt das keiner mehr, dort sind Orte, die ein Drittel ihrer Einwohner verloren haben, schon Alltag. In den alten Bundesländern gibt es noch die Vorstellung, dass die Bedrohung irgendwie vorüber zieht. Ein schwerer Fehler, denn wer die Augen verschließt, wappnet sich nicht für den Wettbewerb der Regionen.

Städte, Kreise und Gemeinden konkurrieren doch längst um neue Bürger und Unternehmen.

Klingholz: In diesem Wettbewerb bleiben eher jene die Sieger, die über Arbeitsplätze vor allem junge Familien anziehen können, als Kommunen, die mit Steuermitteln immer neue Wohn- und Gewerbegebiete erschließen. Gerade in ländlichen Gebieten brauchen wir aber auch einen Wettbewerb der Bürger-Ideen. Der kann nur von unten entstehen.

Wie geht das konkret?

Klingholz: Die Erfolgsformel heißt lokale Autonomie. Im dünn besiedelten Skandinavien etwa bekommen die Gemeinden vom Staat ein Schulbudget und entscheiden dann selbst, welche Schulform sie vor Ort möchten. Leisten wir uns eine Zwergschule? Tun wir uns mit den Nachbargemeinden zusammen? Machen wir an zwei Tagen Teleunterricht? So lässt sich vermeiden, dass Schulen, der wichtigste Haltefaktor für Familien, geschlossen werden. Und die Bürger werden aktiviert, weil sie mitentscheiden dürfen.

Die Bürger machen lassen – ein Allheilmittel?

Kröhnert: Vieles ist besser als die von oben aufgesetzten, ständig wechselnden Programme. Momentan gewinnen nicht die besten Ideen, sondern die gewieftesten Antragsverfasser. Wer sagt denn, dass  der Ort ein Mehrgenerationenhaus braucht oder einen Bürgerbus? Vielleicht funktioniert etwas anderes vor Ort viel besser. Dafür gibt es aber kein Förderprogramm. Diese Logik unterbindet Innovation. Zum „machen lassen“ gehört aber auch, ländliche Regionen von einem Wust bürokratischer Vorschriften zu entlasten, die in Deutschland im Laufe von einem halben Jahrhundert Bevölkerungswachstum erlassen wurden.  Manche kreative Lösung zum Umgang mit der Schrumpfung wird so unmöglich gemacht und die „Macher“ vor Ort resignieren.

Also haben nur Orte mit kreativen und aktiven Bürgern eine Zukunft, die anderen veröden?

Klingholz: Für viele ländlichen Räume ist das Engagement der Bürger eine schiere Überlebensfrage. Ob eine Kommune aus dem Kreislauf von Abwanderung und Überalterung heraus kommt, hängt fast immer von Bürgern mit neuen Ideen ab.

Kröhnert: In Orten auf dem Lande, in denen es keine aktive Gemeinschaft gibt, will keiner mehr wohnen. Die Jugendlichen sind in der Regel alle weg und wenn sich die Bewohner nicht um sich selbst kümmern, droht die Verödung ihrer Dörfer. Doch Not kann auch erfinderisch machen. Wir haben das bei unseren Recherchen erlebt.

Welche Erlebnisse haben Sie bei Ihren Recherchen persönlich betroffen gemacht?

Kröhnert: Es ist beklemmend, durch einen Ort zu laufen, in dem man sich verlassen fühlt. Wenn alle Läden geschlossen haben und es nur noch leere Schaufenster gibt, wenn kein sichtbares gesellschaftliches Leben existiert. In Schwarzenbach in Oberfranken ging es mir so.

Klingholz: In Völklingen im Saarland hat mich sehr erschreckt, dass es kaum noch ein öffentliches Leben gibt – in manchen Straßen findet man nur noch Ein-Euro-Läden und Spielhallen.

Dürfen wir in einer solchen Atmosphäre überhaupt Engagement von den Bürgern erwarten?

Klingholz: Es gibt diese Spirale nach unten. In stark schrumpfenden Orten steigen Resignation und Perspektivlosigkeit, und das ist Gift für die Engagementbereitschaft. Deshalb hängt es meist an einzelnen Zugpferden und Motivatoren.  Der Mensch ist ja erst einmal optimistisch und macht mit, wenn Vorbilder voran marschieren.

In Ihrem Bericht schreiben Sie auch, dass es sich für Unternehmen und Bürger nicht mehr in allen Regionen Deutschlands zu investieren lohnt. Sie geben manche Gegenden auf.

Klingholz: Den Prognosen zufolge werden wir in Deutschland in den nächsten 40 Jahren rund zwölf Millionen Einwohner verlieren. Diesen Prozess können nicht alle Dörfer und Kleinstädte überleben. Wenn wir überall zwanghaft Infrastruktur erhalten, gefährden wir auch jene Gegenden, in denen die Chancen besser stehen. Damit umzugehen, ist eine Frage von Ehrlichkeit und von Verantwortung. Ich finde es erstaunlich, wenn mancher Bürgermeister die Söhne und Töchter seines Ortes zur Rückkehr in die verlassene Heimat auffordert, während die eigenen Kinder in München oder Stuttgart leben.

Womit wir wieder bei der Politik wären. Was kann die konkret tun?

Sich auf das Wesentliche konzen-trieren. Jene Regionen fördern, die mit neuen Ideen eine Zukunft aufbauen können. Und die Versorgung der Restbevölkerung dort sichern, wo Förderung nicht möglich ist.

Text und Interview: Uwe Amrhein

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