Titel – Die Ausweg-Bereiter. Engagement für Kriegsflüchtlinge ist möglich

27. November 2014

Es gibt diejenigen, die reden, und solche, die handeln. Angesichts von ISIS-Terror, Vertreibung und Flüchtlingselend ist eine neue Asyldebatte entbrannt. Ein Pfarrer, ein Politiker, ein Journalist und ein ehemaliger Chauffeur aus Berlin packen unterdessen an. Mit stoischem Pragmatismus haben die vier grundverschiedenen Männer bereits 200 syrische Flüchtlinge ins sichere Deutschland geholt. Weitere 80 haben bereits Einreise-Visa aber noch kein Flugticket.

Text: Henrik Flor

Mit 800 Stundenkilometern wurde Familie Hasoun in ihr neues deutsches Leben katapultiert. Die Hasouns, das sind Mutter Lina, Vater Mohamed Kholi, ihre zwei erwachsenen Töchter und Söhne und der erste Enkel. Vier Stunden dauert der Flug von Kairo nach Berlin. Vier Stunden, die den Unterschied zwischen einem Leben voller Gewalt, Willkür und Anfeindungen und einem Neustart in Deutschland bedeuten.Eigentlich ein Katzensprung – doch ohne Visum und Flugticket eine unüberwindbare Hürde.

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Die Hasouns und diverse andere Familien aus dem syrischen Homs waren in Kairo gestrandet. Auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg wollten sie eigentlich nur kurze Zeit in Ägypten überbrücken. Drei Monate vielleicht, dachten sie, dann könne man sicher zurück nach Syrien. Als Lina Hasoun, die mit einer der Töchter nach Kairo vorgefahren war, mit ihrem Mann telefonierte, wurde klar: Eine schnelle Heimkehr wird es nicht geben. Die Luftwaffe flog massive Angriffe gegen Homs. Das Wohnhaus der Hasouns hatte bereits mehrere Treffer abbekommen. Das halbe Badezimmer war weggerissen, die Wohnung nicht mehr bewohnbar. Der Vater und die übrigen Kinder verließen fluchtartig die Stadt und schlugen sich nach Kairo durch. Ein Onkel, der noch länger wartete, wurde an der Grenze verhaftet und starb in einem der Foltergefängnisse.
Dass die Familien Syrien überhaupt verlassen konnten, hat viel mit einer zufälligen Begegnung in einem Supermarkt in Berlin-Moabit zu tun. Ernst Pulsfort, der Pfarrer der Gemeinde St. Laurentius, traf dort beim Einkaufen zufällig Mohamed Hasoun, einen Bruder von Lina, wieder.
Hasoun fragte den Pfarrer, ob er dabei helfen könne, die Familie in Sicherheit zu bringen. Damals war wohl niemandem klar, dass in diesem Moment etwas Größeres ins Rollen kam. „Naiv“ findet Pulsfort heute seine damalige Haltung: „Wir wussten nicht, wie lange der Krieg dauern würde und wie groß die Gruppe aus Homs am Ende werden würde, die wir rausholen sollten.“
Aus der Familie Hasoun wurde schließlich eine Gruppe von rund 300 Leuten, die zuerst mit gecharterten Bussen nach Damaskus gebracht wurde und später weiter nach Kairo flüchtete. Das Geld dazu kam größtenteils aus Pulsforts Gemeinde. In Kairo konnten dann wiederum mit Geld aus Berlin Wohnungen angemietet und dringende Operationen für die Verletzten bezahlt werden. 1 ½ Jahre verbrachte Mohamed Hasoun in Kairo, um die Gruppe unterzubringen und Arbeit und medizinische Versorgung zu organisieren. -Gleichzeitig wurde die Lage in Syrien immer katastrophaler. An eine schnelle Rückkehr war für Familie Hasoun nicht mehr zu denken. Das Provisorium in Kairo wurde zum Dauerzustand. Umtriebig wie die Familien waren, eröffneten sie eine Bäckerei und begannen, syrisches Gebäck herzustellen und zu verkaufen. Die finanzielle Starthilfe für den Betrieb kam aus Deutschland. Die Geschäfte liefen immer besser. Bald arbeiteten 80 Syrer in drei Schichten in der Bäckerei und finanzierten den größten Teil ihres Lebensunterhalts selbst.
In Kairo erlebten die Hasouns und die anderen nur eine kurze Verschnaufpause. Als das ägyptische Militär unter al-Sisi die Macht an sich riss, begann eine Hetzkampagne gegen die Flüchtlinge aus Syrien. Es hieß, nachdem die Geflüchteten ihr eigenes Land ins Chaos gestürzt hätten, hätten sie nun das gleiche mit Ägypten vor. Islamisten seien unter ihnen und Unruhestifter. Die Hasouns und die übrigen Flüchtlinge aus Homs begannen, sich als Freiwild zu fühlen. Sie wurden auf offener Straße angefeindet und bespuckt, ihr Gebäck kaufte niemand mehr. Lina Hasoun: „Unser Vermieter setzte uns vor die Tür. Das hohe Schmiergeld für eine Aufenthaltsgenehmigung hatten wir nicht. In Kairo konnten wir also auch nicht mehr bleiben.“
Inzwischen einigte sich die deutsche Bundesregierung auf zwei Kontingente von je 5.000 Syrern, die nach Deutschland kommen konnten. Das Besondere an dem Kontingent-Verfahren: Die Syrer kommen nicht als Asylbewerber nach Deutschland. Sie erhalten noch vor der Einreise ein Visum und haben in Deutschland Anspruch auf Sozialleistungen und dürfen sofort eine Arbeit aufnehmen. Ausgenommen waren allerdings Syrer, die in Ägypten gestrandet waren.
Doch dann war der Weg für Familie Hasoun frei. Mit dem dritten Flüchtlings-Kontingent konnten auch Syrer, die nach Ägypten geflohen waren, die Ausreise nach Deutschland beantragen. Wieder ist es Mohamed Hasoun der regelmäßig aus Berlin einfliegt, gemeinsam mit den Syrern die Visa-Formalitäten regelt, bei der deutschen Botschaft vorspricht, die Familien bis zum Flughafen bringt und sich in Deutschland darum kümmert, dass alle Familien gut unterkommen. Für die Hasouns ist es eine Erlösung, die Koffer mit den wenigen Habseligkeiten sind schnell gepackt.
Familie Hasoun hat Glück gehabt und lebt nun in einer eigenen Wohnung in Berlin-Neukölln. Die meisten aus der syrischen Gruppe sind im Übergangswohnheim Marienfelde hängengeblieben, finden keine private Unterkunft in Berlin. Da das Wohnheim schon voll belegt ist, müssen weitere Syrer, die nach Berlin kommen, in die regulären Asyl-Unterkünfte, das heißt: die großen Container-Dörfer. Dombrowski und Pulsfort ärgert es maßlos, dass es kein Konzept gibt, die Syrer zu integrieren oder sie zu unterstützen, wenn es etwa um Behördengänge geht. Deshalb sucht die Gemeinde nun auch zweisprachige Freiwillige, die die Familien unterstützen.
Jeden Tag besuchen die Hasouns eine Sprachschule. Gerade die erwachsenen Kinder sind ehrgeizig, wollen so schnell wie möglich Deutsch lernen, dann am liebsten studieren. Mohamed Kholi: „Wir sind es gewöhnt, zu arbeiten. Wir können es nur ganz schwer ertragen, herumzusitzen.“ Was sie sich für die Zukunft wünschen? Ganz einfach: Frieden, und dass sie möglichst schnell wieder zurück können nach Syrien.
80 Syrer aus der Gruppe der St. Laurentius Gemeinde warten noch in Kairo, Beirut und Istanbul auf ihre Ausreise. Sie besitzen gültige Visa – was fehlt, ist lediglich das Geld für die Flugtickets. Rund 400 Euro kostet ein Flug nach Berlin.

Der Chauffeur, der alles ins Rollen brachte
Pulsfort hatte den 26-jährigen Syrer Jahre vorher auf einer Veranstaltung kennengelernt. Nun wütete in Syrien der Bürgerkrieg. Mohamed Hasoun, der schon länger in Berlin unter anderem als Chauffeur gearbeitet hatte, war zwischen die Fronten geraten, als er seine Familie in Homs besuchte. Nüchtern erzählt er vom 6. September 2011: „Ich wollte gerade ins Auto steigen, als Regierungssoldaten von einem Checkpoint aus ohne Vorwarnung anfingen zu schießen.“ Schwer verletzt durch einen Bauchschuss und mit zertrümmertem Ellenbogen schaffen ihn Verwandte zu einem Arzt, der ihn versorgt. Zwei Wochen später holt ihn einer der zahlreichen Geheimdienste des Assad-Regimes ab und verhört ihn wochenlang. Frei kommt er erst, nachdem er in einem inszenierten Fernsehinterview erzählt, er sei von Rebellen angeschossen worden. Der Arzt, der ihn gerettet hat, wird ebenfalls verhaftet, gefoltert und erst nach Zahlung eines hohen Lösegeldes durch die Hasouns freigelassen. Weil Mohamed Hasoun die deutsche Staatbürgerschaft besitzt, kann er das Land danach verlassen. Heute arbeitet er im Wahlkreisbüro des brandenburgischen CDU-Politikers Dieter Dombrowski.

Der Pfarrer, der nicht anders kann
Möglich gemacht hat die umfangreiche Unterstützung vor allem Pfarrer Pulsfort, der unverdrossen Spenden sammelt. Der promovierte Theologe mit der Marlboro-gegerbten Stimme war früher geistlicher Rektor der Katholischen Akademie in Berlin und hatte sich dort für den interreligiösen Dialog starkgemacht. Die Bindung zu Syrien und seinen Menschen – seien es nun Christen, Muslime oder Angehörige einer anderen Religion – war immer da. Der Gruppe aus Homs zu helfen, dazu brauchte man ihn nicht erst überreden.
Als Schatzmeister, oberster Fundraiser und Spenden-Quittierer in einer Person wirtschaftet Pfarrer Pulsfort von der Hand in den Mund: „Das Irrste war, als wir Visa für 60 Leute hatten, aber kein Geld, um sie nach Deutschland zu fliegen. In genau dem Moment hat eine Bekannte ihr Haus verkauft und wollte vom Erlös 50.000 Euro spenden. Die haben wir natürlich gerne genommen“, erinnert er sich. Doch die Spenden sprudeln nicht immer. Es ist ein mühsames Geschäft, und die Flüchtlinge können nur in kleineren Gruppen ausgeflogen werden.
Dem knurrigen Menschenfischer ist die Erleichterung anzumerken, dass hoffentlich bis Weihnachten das Gros der syrischen Gruppe in Berlin sein wird. Der nun schon zwei Jahre währende Dauereinsatz ist für alle Beteiligten kräftezehrend. Achselzuckend meint Pulsfort: „Wenn du einmal angefangen hast, kommst du nicht mehr so schnell raus aus dem Drama.“ Bis heute hat der Pfarrer mehr als eine halbe Million Euro gesammelt, um die Flüchtlinge zu unterstützen.

Ein wütender Journalist
Der Journalist Martin Gehlen, der unter anderem für den Berliner Tagesspiegel aus Kairo berichtet, kannte Pfarrer Pulsfort bereits über dessen Arbeit als Rektor der Katholischen Akademie. „Irgendwann hatte ich dann eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, ich möchte mich doch mal melden“, erinnert sich Gehlen. In der Folgezeit berichtet er immer wieder über das Schicksal der Syrer in Kairo. Ein einziger Artikel in der Südwest Presse spülte 40.000 Euro Spenden auf das Konto von Pfarrer Pulsfort. Damit war die Bäckerei finanziert, die den Unterhalt der Gruppe lange sicherte. Darüber hinaus macht Gehlen immer wieder die deutsche Botschaft in Kairo auf die Situation der Flüchtlinge aufmerksam, wirbt für die Erweiterung der Kontingent-Regelung auf die Syrer in Ägypten. Zusätzlich begleitet er Flüchtlinge zum Arzt der deutschen Botschaft und übersetzt. Geplant hatte er sein Engagement für die Flüchtlinge ebenso wenig wie die anderen Beteiligten: „Es gab keine Strategie. Die Gruppe wuchs und wuchs, und Menschen abweisen konnten wir nicht.“

Der Strippenzieher mit besten Verbindungen

Dass auch Syrer aus Kairo in die Kontingent-Regelung fallen, kann sich zu einem guten Teil Dieter Dombrowski auf die Fahnen schreiben. Der 63-Jährige sitzt für die CDU im Brandenburgischen Landtag. Er ist jemand, der sich schon oft quer gestellt hat, wenn er das Gefühl hatte, etwas laufe schief. Er saß wegen Republikflucht in einem DDR-Gefängnis und protestierte 35 Jahre später in Häftlingskluft gegen die Vereidigung der rot-roten Landesregierung. Der bestens vernetzte Strippenzieher hat die Unterstützung der syrischen Flüchtlinge zu seiner Sache gemacht.
Inzwischen hat er an die zehn Wohnungen angemietet, in denen er Flüchtlinge untergebracht hat. Auf dem angespannten Berliner Wohnungsmarkt hätten die Flüchtlinge allein nie eine Chance gehabt. Mehrmals hat er die Innenminister der Länder abtelefoniert, um für die Aufnahme von Syrern aus Ägypten zu werben. Damit hat er sich in der eigenen Partei nicht nur Freunde gemacht. Er kontaktierte das Innenministerium und das Auswärtige Amt sowie die Botschaft in Kairo und berichtete, wie es Familien wie den Hasouns aktuell in Ägypten ergeht. Schützenhilfe leistete wiederum der Journalist Martin Gehlen. Und wenn sich heute eine Kommunalverwaltung bei der Unterbringung der Syrer ziert, kostet es Dombrowski einen Anruf beim Sozialminister, um eine Lösung zu finden. Was ihn antreibt?
Ein entscheidender Moment war sicherlich ein Gottesdienst in der St. Laurentius Kirche, den auch einige der Syrer besuchten: „Wenn man diese Menschen leibhaftig und lebendig vor sich stehen sieht, dann hat das eine Wirkung, der man sich nicht entziehen kann.“

Spenden können Sie direkt an die Gemeinde überweisen:

Name: St. Laurentius Gemeinde
IBAN: DE05370601936000967015
BIC: GENODED1PAX
Bank: Pax Bank
Verwendungszweck: Syrienflüchtlingshilfe/Enter
Oder besuchen Sie unsere Seite auf der Spendenplattform Betterplace.org.

Dort können ab sofort Flugtickets für syrische Flüchtlinge mitfinanziert werden.

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