Volks-Wirtschaft
Misswirtschaft, Korruption und Schuldenrekorde – wer bloß an der Oberfläche kratzt, verbindet genau diese Klischees mit Griechenland, Spanien & Co.. Doch ausgerechnet in diesen Ländern entstehen einige der beeindruckendsten Bürger-Projekte, die für ein neues Wirtschaften stehen: solidarisch, nachbarschaftlich, gerecht. Die Krise ist der Katalysator für Tauschbörsen, Zeitbanken und Genossenschaften. Enter hat mit den klügsten Köpfen dieser Bewegung gesprochen und dabei jede Menge Blaupausen für gutes Wirtschaften kennengelernt. Wer hier nicht genau hinschaut, verpasst etwas Wichtiges.
Text: Henrik Flor
Der Bürger-Beweger
+++Katerini, Griechenland+++
Alles begann mit einem Blick aus dem Fenster. Dort sieht Elias Tsolakidis in der Ferne den Berg Olymp, Griechenlands großen mystischen Ort. Und er sieht protzige Häuser, die mitten in die idyllische Landschaft hineingesetzt wurden. Denn so etwas wie einen Bebauungsplan hat es nie gegeben. Wer dem richtigen Verwaltungsbeamten etwas zusteckte, konnte sich an dem Wildwuchs beteiligen. Gleichzeitig fühlte sich niemand in der Kommunalverwaltung dafür verantwortlich, ein Frühwarnsystem für die hier oft wütenden Waldbrände zu organisieren. Für Tsolakidis, der sein Geld als Technischer Direktor des European College of Sport Science in Köln verdient und alle zwei Wochen zu seiner Familie in Katerini pendelt, waren dies nur zwei Symptome eines insgesamt kranken Systems, das viel zu lange toleriert wurde. Was er machte: Er organisierte den Bau von zwei Beobachtungstürmen und programmierte einen Online-Kalender, in dem jeder Tag der Waldbrand-Saison aufgeführt ist. Seitdem können sich Bürger registrieren und für Schichten eintragen. Was 2007 etwas holprig startete, bindet heute über 500 Familien vor Ort ein. Die Teilnahme ist zur Auszeichnung geworden. Mehr noch: Der Ort eroberte sich durch das Projekt die Teilhabe an dem Berg zurück. So konnten die Bürger verhindern, dass am Fuße des Berges mehrere zehntausend Tonnen Industrieabfälle abgekippt werden.
Und dann kam die Krise.
Sie erwischte Katerini mit voller Wucht. Unter den vielen Arbeitslosen in dem 80.000-Einwohner-Ort haben 400 Familien noch nicht einmal mehr Zugang zum maroden Gesundheitssystem. Tsolakidis‘ Initiative, die sich inzwischen den Namen „Mein Ort“ („o topos mou“) gegeben hat, hat deshalb seine Aktivitäten enorm ausgeweitet: Da ist die ehrenamtliche Sozial-Apotheke, die gespendete Medikamente sammelt und verteilt; die Gesundheitsstation, die Ärzte und Schwestern in ihrer Freizeit betreiben; die Initiative gegen die Privatisierung der Wasserversorgung. Insgesamt sind es 22 Einzelprojekte, die in dem Ort von Bürgern organisiert werden. Jede Gruppe agiert vollkommen autonom, es gibt keine Chefs und Vorstände, keine Vereinssatzung und keinerlei Geldverkehr. Nicht einmal Spenden werden angekommen. Tsolakidis: „Technisch gesprochen ist ‚Mein Ort‘ eine Mailingliste – die wir aber Tag für Tag mit Leben füllen.“ Warum aber der informelle Charakter? Weil die Bürger auf keinen Fall wollen, dass die örtlichen Strippenzieher aus Politik und Verwaltung irgendeinen Hebel finden, um diejenigen zu beeinflussen, die ihr Versagen jeden Tag aufs Neue öffentlich machen.
Womit „Mein Ort“ besonders Furore gemacht hat, ist das Projekt „Ohne Zwischenhändler“. 2011 fand die erste Aktion statt. Damals wollten Bauern aus Protest gegen die niedrigen Kartoffelpreise und die hohen Margen der Händler ihre Ernte verschenken. Zusammen mit Tsolakidis kamen sie auf die Idee, die Kartoffeln direkt und ohne einen Zwischenhändler, der mitverdient, zu einem für alle fairen Preis direkt an die Leute zu verkaufen. Kurzerhand programmierte die Initiative einen Online-Shop, über den die Bürger genau ordern können, wie viel Kartoffeln sie kaufen werden. An einem festgelegten Tag fahren sie dann direkt mit dem Auto zur Verteilerstelle, Freiwillige laden die Waren ein, bezahlt wird in bar an den Bauern. Tsolakidis: „So etwas nennt man einen lokalen Wirtschaftskreislauf! Der Bauer weiß genau, wie viele Säcke er heute verkaufen wird und erhält sofort sein Geld.“ Inzwischen funktioniert das Prinzip auch mit Waschmittel, Olivenöl, Orangen, Mehl, Reis oder Zwiebeln. Der Hersteller von Waschmittel, mit dem „Mein Ort“ zusammenarbeitet, hat inzwischen fünf neue Leute eingestellt und beginnt, seinen Betrieb zu modernisieren.
Mittlerweile organisieren sich sechs weitere Orte nach dem Vorbild Katerinis. Je nach Situation vor Ort übernehmen sie Teilprojekte von „Mein Ort“, andere nicht. Erste Vernetzungstreffen haben stattgefunden, um voneinander zu lernen. Viele weitere Gemeinden sind in den Startlöchern.
Seit letztem Sommer ist eine alte Tabakfabrik zum Hauptquartier der Bürger-Initiative geworden. Weil niemand wusste, wem das Gebäude gehört, brachen die Aktivisten die Eingangstür einfach auf und richteten einen großen Raum für sich her. Inzwischen hat sich der griechische Staat zum Eigentümer erklärt und der Initiative den Komplex für fünf Jahre überlassen. Zur Schlüsselübergabe erschien der griechische Agrarminister. Ihm dürfte klar geworden sein, dass man an den selbstbewussten Bürger von Katerini nicht mehr vorbeikommt.
Gleich gegenüber der Tabakfabrik wohnt Elias Tsolakidis. Wenn er nun aus dem Fenster schaut, sieht er nicht nur die Bausünden am Olymp, sondern auch den neuen Treffpunkt derjenigen Bürger, die sich nicht mehr alles gefallen lassen, die aktiv geworden sind und Verantwortung für ihre Stadt übernehmen.
Jeder kann die Sozial-Apotheke in Katerini unterstützen, indem er angebrochene Medikamente sammelt und nach Katerini schickt – auch Freunde, Kollegen und Nachbarn fragen!
Social Medical Care/Pharmacy of Katerini
Koinoniko Iatreio/ Farmakeio Katerini
Fleming 8 (Kapnikos Stathmos)
GR-60100 Katerini
Griechenland
Der Salat-Revoluzzer
+++Huertos compartidos, Cuenca, Spanien+++
Santi Cuerda hat etwas losgetreten, was in Spanien bereits die „Salat-Revolution” genannt wird. Und tatsächlich ist ihm, der als One-Man-Show startete, Erstaunliches gelungen. Es ist ein altes Prinzip des Teilens von Land, das er gründlich modernisiert, internetfähig und populär gemacht hat.
Ausgangspunkt war, dass durch die Landflucht in Spanien immer mehr Flächen brach liegen, andererseits sich aber immer mehr Städter fürs Gärtnern interessieren. Das einfache Prinzip: Jemand, der ein Grundstück hat, aber nicht bewirtschaftet, überlässt es einem anderen zum Anbau von Obst und Gemüse. Dafür bekommt der Besitzer die Hälfte der Ernte. Zusammen mit einer Handvoll Webentwicklern, die pro bono arbeiteten, hat er mit www.huertoscompartidos.com („geteilte Gärten“) eine originelle Webplattform live geschaltet, in der sowohl Angebote als auch Gesuche platziert werden können.
Für Santi Cuerda hat die Krise die Notwendigkeit, dass sich unser Lebensstil und die Art des Wirtschaftens fundamental ändern müssen, noch einmal verschärft: „Die Menschen verstehen jetzt besser, dass man sich gegenseitig helfen muss. Es geht um ein Leben, das solidarischer und auch ökologischer ist. Ohne Spekulation und all das, was uns in die Krise stürzte.“ Und so geht es bei den „geteilten Gärten“ denn auch um mehr als bloßes Gemüseziehen. Santi Cuerda: „Menschen aus der Stadt lernen fundamentale Dinge, begegnen anderen Menschen, entdecken ein gemeinschaftliches Leben.“ Cuerda selbst ist eigentlich Anwalt, hat einen Master in Umweltmanagement und ist seit einem Jahr ohne Job. Derzeit überlegt er, wie aus „Huertos compartidos“ ein Geschäftsmodell werden kann, von dem er leben kann. Bislang besteht die Entlohnung für seinen Vollzeitjob darin, zu wissen, dass er nicht weniger als 700 Leuten zu eigenen Gärten verholfen hat und weit mehr als 1,5 Millionen Quadratmeter Land einer sinnstiftenden Nutzung zugeführt hat.
Der Immobilien-König
+++Sepermuta, San Sebastian, Spanien+++
Im baskischen San Sebastian spielt eine weitere Geschichte, die viel über die Krise in Südeuropa und die neuen Bürger-Initiativen verrät. 2008 sah es beruflich bei Eneka Tamayo alles andere als rosig aus. Er und seine Familie überlegten, in eine kleinere Eigentumswohnung mit weniger Unterhaltskosten zu ziehen. Doch damals war die Immobilienblase bereits geplatzt, die Preise befanden sich im freien Fall.
Eine Wohnung zu kaufen und nicht zu wissen, ob man die alte los wird, wäre ökonomischer Wahnsinn gewesen. Eneka Tamayo erinnert sich: „Wir haben dann im Netz geguckt, ob es eine Möglichkeit gibt, Wohnungen zu tauschen, haben aber nichts gefunden. Weil ich und mein Bruder im Bereich Multimedia arbeiten, haben wir uns gesagt: ‚Dann stellen wir diese Seite eben selbst auf die Beine.‘“ So entstand www.sepermuta.es.
Übersetzt heißt das so viel wie „zu tauschen“ – als Alternative zu den allgegenwärtigen Anschlägen „zu verkaufen“, die in zahllosen Fenstern hängen. Die „Permuta“ ist ein mittelalterliches Tausch-Prinzip, das die Brüder ins 21. Jahrhundert transferiert haben. Wer seine Wohnung tauscht, muss keine Zwischenkredite aufnehmen und geht kein finanzielles Risiko ein. Das Ganze ist vertraglich abgesichert und wasserdicht.
Auf der Plattform sind aktuell 17.000 Immobilien gelistet, 50.000 Besucher kommen jeden Monat auf die Seite. Heute wechselt schon jede vierte Immobilie in Spanien über das Tauschprinzip den Besitzer. Das Online-Angebot ist übrigens komplett kostenfrei. Tamayo erklärt: „Das Ganze machen wir in unserer Freizeit. Wir haben glücklicherweise einen Job und sind nicht darauf angewiesen, mit sepermuta.es Geld zu verdienen.“
Der Arbeitsvermittler
+++De persona a persona, Spanien+++
Ignacio Cristobal Martin setzt bei einem der dramatischsten Auswirkungen der Krise an: der enormen Arbeitslosigkeit. Rund ein Viertel der erwerbsfähigen Spanier haben derzeit keinen Job, unter Jugendlichen ist die Situation noch sehr viel dramatischer. Martin hat sich überlegt, dass viele Leute also wenig Geld, aber viel Zeit hätten. Und da trotz Rezession weiterhin Wohnungen gestrichen werden wollen, Waschmaschinen kaputt gehen, Babysitter gebraucht oder ein Englischlehrer gesucht wird, sollen diejenigen ohne Arbeit doch ihre Fähigkeiten und ihr Know-how miteinander „tauschen“. Wer also einen Umzugshelfer sucht und im Gegenzug beim Schreiben einer Bewerbung helfen würde, findet auf der Plattform www.depersonaapersona.es („Von Mensch zu Mensch“) den richtigen Partner. Dabei versteht sich die Website nicht als rein technische Dienstleistung. Vielmehr gehe es darum, Menschen zusammenzubringen, die neue Ideen und Erfahrungen austauschen. Menschen sollen sich wieder stärker gegenseitig helfen. Freilich sind auch einige Rohrkrepierer dabei, die dann ihren Teil der Vereinbarung nicht oder nur schlecht erfüllen. Dass sich dies ändert, daran arbeitet das Team derzeit vorrangig.
Acambiode.com
Die Plattform www.acambiode.com funktioniert als Tauschplattform für Unternehmen. Wenn ein Unternehmen 2 km Kabel loswerden will, kann es die gegen Druckerpatronen oder ein paar Gallonen Benzin tauschen. Das B2B-Angebot funktioniert wahlweise ganz ohne Geld oder mithilfe von Teilzahlungen. So können effektiv Überkapazitäten und Restposten losgeschlagen und Ressourcen gespart werden. Das Online-Angebot ging zwar bereits 2001 an den Start. Doch erst seit 2008, mit der Krise, begann der kometenhafte Aufstieg. Inzwischen sind 67.000 Kunden in Spanien registriert, 310.000 weltweit. Ein durchschnittlicher Deal hat das Volumen von 5.000 Euro.
Die Arbeits-Kämpfer
+++Vio.me, Thessaloniki, Griechenland+++
Alles sah danach aus, dass die Baustofffabrik Vio.me eines der vielen Opfer der Krise in Griechenland werden sollte. Der Mutterkonzern ging 2011 in die Insolvenz, die Leitung machte sich aus dem Staub und das Ende des Unternehmens im Norden Griechenlands schien nur noch Formsache. Doch dann regte sich Widerstand, massiver Widerstand. Die Arbeiter besetzten das Werksgelände und bekamen Unterstützung aus dem ganzen Land.
Foto: CC BY-NC-SA 2.0 / Dawid Krawczyk
Anfang 2013, nach langen Verhandlungen, konnte die Produktion in der Regie einer Arbeitergenossenschaft wieder aufgenommen werden. Prekär blieb die Lage für die Mitarbeiter, die zuvor 1 ½ Jahre keinen Lohn mehr bekommen hatten, dennoch. So wurde zuerst alles, was nicht unbedingt notwendig für die Produktion ist, auf einer Auktion versteigert, um Geld für den Kauf neuer Grundstoffe zu erlösen.
Mit der Übernahme der Fabrik wird nun auch die Produktion Schritt für Schritt ökologisch ausgerichtet – Bioputzmittel sollen die Wende bringen. Ruhe ist allerdings noch lange nicht eingekehrt. Die ehemalige Leitung der Fabrik prozessiert und will die Fabrik wieder übernehmen. Die Genossenschaft vermutet dahinter den Versuch, die Lohnschulden und Ausstände bei den Sozialversicherungsträgern zu verschleiern. Das Experiment geht in die nächste Runde.
Die Blattmacher
+++Eleftherotypia, Athen, Griechenland+++
Ähnlich haben es die Redakteure der griechischen Zeitung „Eleftherotypia“ aus Athen gemacht. Im Zuge der Krise zahlten die Eigentümer den 700 Mitarbeitern ab dem Sommer 2011 keine Gehälter mehr. Anfang 2012 stellten die Besitzer den Betrieb des unabhängigen linksliberalen Traditionsblattes ein.
Nur wenig später gab dann ein Teil der Mitarbeiter die „Zeitung der Redakteure“ im Wochenrhythmus heraus. Seit 2013 wieder täglich. Der Zeitung ist es bis heute gelungen, sich im schwierigen Umfeld zu behaupten.
Foto: imago