Titelstory: Der neue Jetset

17. März 2013

Gut ausgebildet, mehrsprachig, vernetzt, zu Hause in verschiedenen Kulturen – das sind nicht nur Attribute für moderne Job-Nomaden. Immer mehr Migranten nutzen ihr Potenzial für die neue Heimat. Und für die alte.

Text: Henrik Flor, Katharina Stökl

MANAGERIN DES JAHRES

Name: Nadia Qani

Wohnt in: Frankfurt/M.

Wurzeln: Afghanistan

Aktionsradius: 11:40 Flugstunde

Rekordverdächtig: Kommt auch mit 4 Stunden Schlaf aus

Verfassung: Hört nicht auf zu träumen

 

Nadia Qanis zweites Leben beginnt auf 16 Quadratmetern Deutschland. Bett, Spind, Tisch, zwei Stühle und eine Duschkabine haben Platz – im Zimmer des Frankfurter „Hotel Splendid“, das so gar nichts Strahlendes hat. Es ist nicht mehr als eine heruntergekommene Unterkunft für Asylbewerber, die überteuert an die Stadt vermietet und dann sich selbst überlassen wurde. Qani spricht kein Deutsch, ein paar Habseligkeiten hat sie auf ihre abenteuerliche Flucht mitnehmen können, die sie von Kabul über Pakistan und London schließlich nach Frankfurt führte, wo ihr Mann bereits auf sie wartete. Es ist 1980. In Afghanistan herrscht Bürgerkrieg, niemand ist mehr sicher, ein falsches Wort kann Misstrauen erregen, zu Denunziation und Verschleppung führen. Qani und ihr Mann waren politisch aktiv in einer der vielen Splittergruppen, links und demokratisch. Sie gingen auf Demos, skandierten Parolen, druckten Flugblätter. Die Situationwurde immer unübersichtlicher, wer sich nicht dem Marionettenregime der Sowjets anschließen wollte, griff zu den Waffen – oder ging.

 

 „Ich bin eine Deutsche aus Afghanistan.“

32 Jahre nach ihrer persönlichen Stunde null im Süden Frankfurts ist Qani in Deutschland angekommen. Sie ist Inhaberin eines ambulanten­Pflegedienstes,­beschäftigt­44­Mitarbeiter aus 13 Nationen, ist kommunalpolitisch für die SPD aktiv, Gründungsmitglied eines Unternehmerinnen-Netzwerkes und des Vereins ZAN zum Schutz der Rechte afghanischer Frauen. Dank der Höhen und Tiefen, die sie erlebt hat, ist sie zum Vorbild geworden für andere Frauen und Männer aus Afghanistan, die sich in Deutschland ein neues Leben aufbauen. Sie selbst bringt es auf eine ganz einfache Formel: „Ich bin eine Deutsche aus Afghanistan.“

In Afghanistan war Qani auf dem besten Weg, eine steile Karriere im Wirtschaftsministerium zu machen, in Frankfurt geht sie erst einmal putzen, lernt Schritt für Schritt die Sprache. Sie bringt zwei Söhne zur Welt, wenig später zerbricht die Ehe. Sie beginnt zu trinken, stürzt ab. Eine Freundin hilft ihr aus dem Tal, setzt sie wieder aufs Gleis. Ihr Pflegedienst wächst und wächst – das Konzept, kultursensibel zu arbeiten, also pflegebedürftige Menschen entsprechend ihres Hintergrunds zu betreuen, kommt an.

„Die Frauen wünschen sich jemanden, der genauso wie sie noch einmal ganz von vorne anfangen musste.“

Trotz der zwölf Stunden, die sie jeden Tag in ihrer Firma verbringt, möchte sie etwas von der Unterstützung zurückgeben, die sie selbst erfahren hatte: an Frauen, die wie sie ihre Heimat Afghanistan verlassen haben und nun versuchen, in Deutschland Fuß zu fassen. „Die Frauen wünschen sich jemanden, der ihre Sprache spricht, ihre Kultur kennt und genau wie sie noch einmal ganz von vorne anfangen musste“, weiß Qani, „90 Prozent von ihnen sind traumatisiert. Sie kennen so etwas wie Frieden gar nicht.“

Seit inzwischen 13 Jahren bietet der von ihr gegründete Verein ZAN Sprechstunden für afghanische Frauen an. Auch die Behörden schicken regelmäßig afghanische Migrantinnen zu Qani. Sie arbeitet in zwei Richtungen, versteht es, auf der einen Seite den Afghaninnen den Start in ein völlig neues Leben zu erleichtern und auf der anderen Seite, Verwaltungsmitarbeiter, Arbeitgeber oder Lehrer für die Situation afghanischer Migranten in Deutschland zu sensibilisieren. Der Schlüssel zu einem Neustart in Deutschland war für sie schon immer ein Job, und so nutzt sie ihr inzwischen weit verzweigtes Netzwerk, um möglichst viele Afghanen in Arbeit zu bringen: „Einmal besuchte mich ein afghanischer Künstler, der keinen Job finden konnte. Dann hat sich herausgestellt, dass er sehr gut schreiben kann. Ich vermittelte ihn an einen Freund bei der Deutschen Welle, für die er noch immer arbeitet“, freut sich Qani. Auch für die afghanischen Frauen ist der Job der Beginn, die neue Heimat kennenzulernen, mit Deutschen in Kontakt zu kommen, neue Perspektiven kennenzulernen.

„Manche sind damit überfordert, dass eine allein stehende Frau erfolgreich ein Unternehmen leitet und sich engagiert.“


Doch nicht jeder ist auf ihr Engagement gut zu sprechen. Gerade aus der eigenen Community  kommt Gegenwind. Drohbriefe und Beschimpfungen haben Qani schon viele erreicht, meist von Frauen: „Ich bin eine geschiedene Frau, alleinerziehend. Wie kann ich da anderen Frauen helfen, die noch verheiratet sind, fragen sich viele Afghanen. Manche sind damit überfordert, dass eine allein stehende Frau erfolgreich ein Unternehmen leitet und sich engagiert.“ Doch die meisten seien stolz darauf, wie positiv Qanis Engagement in Deutschland aufgenommen werde und wie viele Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz, sie inzwischen erhalten hat.

Kritik versteht Qani, eine Frau mit schier unerschütterlicher Nehmerqualität, stets als Antrieb. Eine Situation hingegen warf die erfolgreiche Geschäftsfrau vollkommen aus der Bahn: Eines Tages greift eine Frau die Deutsch-Afghanin auf offener Straße an, beschimpft und tritt sie. Ein traumatisches Erlebnis. Aber selbst dieser Vorfall habe auch etwas Gutes gehabt. Durch die anschließende Therapie, sei sie gezwungen gewesen, alte Traumata anzugehen, die sie seit ihrer Flucht aus Afghanistan verfolgten: „Es durfte alles raus. Heute fühle ich mich befreiter als vorher.“ Dennoch: Seit der Attacke hat sie noch immer Angst , wenn sie spät von der Arbeit nach Hause kommt, kann im Dunkeln nicht einschlafen.

Qanis Verein ZAN engagiert sich nicht nur für Afghaninnen, die in Deutschland leben. Er unterstützt auch Qanis ehemalige Schule in Kabul, die nach der Machtübernahme durch die Taliban zerstört wurde. Das Jumhoriat Lycée habe ihr viele Türen geöffnet, den Spaß am Lernen geweckt. In Deutschland hält sie daher regelmäßig Vorträge an Schulen und organisiert Musikveranstaltungen, deren Erlöse an ZAN gehen. Es ist Geld, das hilft, den Wiederaufbau des Mädchengymnasiums

Zu unterstützen. Regelmäßig fließt auch Geld an drei Gruppen von Schülerinnen in verschiedenen afghanischen Provinzen. Jeweils 20 Mädchen werden von zuverlässigen Kontaktpersonen unterstützt, Schulmaterialien und -gelder bezahlt. Den Geldtransfer übernimmt eine gute Freundin, die bei der GIZ arbeitet und regelmäßig in Afghanistan ist. Gerade heute, da es Frauen zunehmend schwerer in Afghanistan haben, sei es wichtig, betont Qani, den Mädchen einen guten Start ins Leben zu geben und sie bestmöglich auf die Zukunft vorzubereiten.

„Ich bin es gewohnt, aus dem Nichts etwas zu schaffen.“

Qanis Engagement ist nicht generalstabsmäßig organisiert. Sie hilft, wo sie kann, gibt, wenn Geld da ist, berät, auch wenn sie sich eigentlich um die Firma kümmern müsste und organisiert auch schon mal einen Protestmarsch, wenn sie Wut im Bauch hat. Wie damals, als die Taliban die in Afghanistan lebenden Hindus dazu zwangen, ein Band zu tragen, um sie als Nicht-Muslime kenntlich zu machen. „Es war wie damals, als die Nationalsozialisten Juden zwangen, den gelben Stern zu tragen.“ Zusammen mit den Grünen-Politikern Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer stellte sie kurzerhand eine Demonstration in Frankfurt auf die Beine.

Eine Rückkehr nach Afghanistan ist unter den jetzigen Umständen zu einem unerfüllbaren Traum geworden, und die Sorge um die Zukunft des Landes begleitet sie auch in Deutschland: „Ich frage mich, wie die Situation der Frauen in Afghanistan aussehen wird, wenn 2014 die ausländischen Truppen weitgehend abgezogen sind.“ Ihre bittere Prognose: „Die Frauen werden vielleicht in 100 Jahren wieder so frei durch die Straßen laufen können wie vor 40 Jahren.“ Doch sie ergänzt schnell: „Mein Traum ist es, in Kabul ein Frauenhaus zu eröffnen, einen Zufluchtsort, an dem Frauen ihr Leben selbstbestimmt meistern. Ich stelle mir einen integrierten Kindergarten vor, eine Werkstatt und Räume für Weiterbildungen.“ Zweifel an der Realisierbarkeit ihres Traums hat Qani nicht. Es sei weniger eine Frage des Ob, denn eine Frage des Wie und Wann. Aus dem Nichts etwas schaffen, das ist sie gewohnt.

www.zanev.de

http://www.nadia-qani.de/

http://weltbeweger.de/toro/resource/html#!entity.447

 

DER NEIN-SAGER 

 

 

Name: Sergey Yenin

Wohnt in: Warschau/Berlin

Wurzeln: Weißrussland

Aktionsradius: 1:10 Flugstunden

Rekordverdächtig: organisiert in Europas letzter Diktatur eine Gay-Parade

Verfassung: desillusioniert

Es gehört einiges dazu, mit gerade einmal 18 Jahren sich lieber von der Universität werfen zu lassen, als beim Geheimdienst als Spitzel anzuheuern. Das ist die typische Alternative unter Diktator Lukaschenko, vor die diejenigen gestellt wurden, die bei den Studentenprotesten 2007 mitgemischt haben. Für Yenin war es ein Erweckungsmoment, der ihn nur darin bestätigte, etwas verändern zu wollen. Er ging nach Warschau, studierte weiter und machte sich von dort aus für die Rechte von Schwulen und Lesben in Weißrussland stark. Er gründete das Bündnis GayBelarus, organisierte die Parade „Minsk Pride 2010“ und diverse andere Events. Eine enge Kooperation via Internet mit den Aktivisten in Weißrussland und regelmäßige Besuche vor Ort waren selbstverständlicher Teil des Engagements.

Geld, mit dem europäische Organisationen Nonprofits in Weißrussland üppig fördern, wollte er nie nehmen. Für grenzenlos naiv hält er das Engagement der EU und westeuropäischer Stiftungen, die nur eine NGO-Industrie finanzierten, die sich in weiten Teilen nur bereichere. Yenin wollte keine Kompromisse eingehen, mit staatlichen Stellen kooperieren, seine Forderungen verwässern. Obwohl er viel bewegt hat, ist er inzwischen überzeugt, dass ein Engagement für Freiheitsrechte in Weißrussland vollkommen sinnlos ist. Die Repression sei noch effizienter geworden, die Bevölkerung habe in Sowjetzeiten eine ausgeprägte Untertanenmentalität kultiviert, niemand zeige Bereitschaft sich für ein Veränderung im Land einzusetzen. Sämtliche Mitstreiter haben inzwischen das Land verlassen. Auch bei schwulen Weißrussen sieht er keine Unterstützung. Sie wollen sich nicht zeigen, nach außen eine heterosexuelle Fassade wahren und im Privaten ihr Glück finden.

Yenins desillusioniertes Fazit: Als Einziges bleibe es, anderen Weißrussen zu helfen, das Land zu verlassen.

 

 

Name: Vassilios Vougiatzis

Wohnt in: Berlin

Wurzeln: Griechenland

Aktionsradius: 2:55 Flugstunden

Rekordverdächtig: dreht mit 5.000 Euro einen Film, der weltweit läuft

Verfassung: neugierig auf das, was kommt

 

Was tun, wenn man richtig Wut im Bauch hat? Am besten etwas, dass dem Aufreger etwas entgegemsetzt. Als Vassilios Vougiatzis, Radiojournalist beim Sender Funkhaus Europa, immer wieder mit den gleichen Klischees über faule Griechen und versickernden Milliarden in den Medien konfrontiert wurde, wollte er zeigen, wie das Leben der normalen Leute inzwischen aussieht: Das Leben seiner Verwandten und Freunde, die mit 600-800 Euro ihre Familien durchbringen müssen. Seine Kollegin Mosjkan Ehrari kam auf die Idee, gemeinsam nach Griechenland zu fahren und den schwierigen Alltag junger Menschen zu dokumentieren. Geld hatten sie keines für das Projekt und starteten deshalb eine Kampagne auf der Crowdsourcing-Plattform startnext. 72 Unterstützer fand das Projekt. So kamen über 5.000 Euro zusammen, die in Reisekosten, das Film-Equipment und die Postproduktion investiert wurden. Man wollte nicht lange warten, sondern loslegen, jetzt, wo es wichtig ist das „Griechenland zu zeigen, das es eben auch gibt“.

Entstanden ist auf diese Weise der Dokumentar-Film „Message from Greece“ – eine Momentaufnahme junger Griechen zwischen Hoffnung, Frustration und dem Traum, woanders sein Glück zu machen. Der Film wurde auf dem Filmfestival von Thessaloniki gezeigt. Auch BBC World strahlte den Film mehrfach weltweit aus. Vougiatzis möchte mit dem Film eine Diskussion anstoßen: über die Verhältnisse in der Heimat seiner Eltern und darüber, was uns Solidarität in Europa wert ist.

http://www.message-from-greece.com/

 

 

Name: Jasmina Prpic

Wohnt in: Freiburg i.B.

Wurzeln: Bosnien

Aktionsradius: weltweit

Rekordverdächtig:

Verfassung:

 

Brain drain nennt man es, wenn ein Land ausblutet, die Besten das Land verlassen, weil es Krieg, Unterdrückung oder Hunger unmöglich machen, zu bleiben. Die Juristin Jasmina Prpic war als Anwältin in Jugoslawien tätig, hatte danach ein Richteramt inne. 1992 als der Vielvölkerstaat zerbrach, flieht sie mit der Familie nach Deutschland. In Freiburg startet sie bei null. Ihre Ausbildung wird nicht anerkannt, sie muss die Sprache von Beginn an lernen, kellnern und putzen, den Bildungsweg von neuem gehen. Über eine Seminararbeit während eines Aufbaustudienganges arbeitet sie sich in die Kriegsverbrechen – vor allem die Massenvergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina ein – und verfolgt intensiv die Arbeit des Haager Kriegsverbrechertribunals. Für Monika Hausers Verein medica mondiale soll sie für drei Monate im Kosovo: vergewaltigte Frauen als potenzielle Zeugen des Haager Tribunal unterstützen. Nach vier Jahren kehrt sie nach Deutschland zurück, verfasst Aufsätze über Menschenrechtsverletzungen gegenüber Frauen, hält Vorträge auf Konferenzen in der ganzen Welt.

Am 6. November 2007 schließlich gründet Prpic den Verein Anwältinnen ohne Grenzen, der mit seinen Mitgliedern aus aller Welt ein umfangreiches Wissen über Rechtssysteme, Sprachen und kulturelle Traditionen bündelt. Es ist die erste rein juristische Frauenorganisation, die sich mit der Verletzung von Frauenrechten befasst. Missstände sollen öffentlich gemacht werden und die Ahndung mit juristischen Mitteln – vor allem auf Grundlage der UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) unterstützt werden. Die Mitglieder des Vereins reisen regelmäßig in ihre Heimatländer, sind dort bestens vernetzt und wissen ganz genau, wen man für welche Informationen ansprechen soll. So kann die häufige Diskrepanz zwischen offizieller Darstellung der Frauenrechtssituation und dem tatsächlichen Alltag überprüft werden. Dabei scheut sich Prpic nicht davor, auch Versäumnisse in Deutschland ins Rampenlicht zu rücken, wenn etwa Frauen mit kleinen Kindern keinen Beruf ausüben können, weil Betreuungsplätze fehlen. So z.B. während ihrer Dankesrede, nachdem ihr der „Preis Frauen Europas“ 2012 überreicht wurde.

 

http://anwaeltinnen-ohne-grenzen.de

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