Titel – Der große Bluff

12. September 2012

In Deutschland ist der Bürgerhaushalt real schon gescheitert

Die Idee klingt gut. Sie klingt nach aktiver Zivilgesellschaft, nach Mitgestaltung, nach einem neuen Verhältnis zwischen Kommunalpolitik und Bürgern. Ergänzend zu den Haushaltsberatungen im Parlament soll jede Bürgerin und jeder Bürger die Möglichkeit haben, Ideen und Sparvorschläge einzubringen und so über den städtischen Etat mitzubestimmen.
Gut 20 Jahre dümpelte das Konzept in Deutschland vor sich hin, ohne sich nennenswert zu verbreiten. Lediglich eine kleine Schar aus Politikwissenschaftlern und Engagementexperten schaute begeistert nach Brasilien.
Dort, in der Millionenstadt Porto Alegre, hatte die 1988 an die Macht gekommene Arbeiterpartei einen Weg aus dem Sumpf aus Korruption und Verelendung gefunden. In einem komplexen System aus Bürgerversammlungen in den einzelnen Stadtvierteln nahmen die Einwohner 1989 erstmals Einfluss auf die Finanzen. Sie setzten Schwerpunkte nach ihren Bedürfnissen. So floss nach und nach mehr Geld in eine brauchbare Wasserversorgung, in die Alphabetisierung und in das Stromnetz anstatt in Prestigeprojekte für die oberen Zehntausend. Eine Erfolgsgeschichte, die in Süd- und Mittelamerika schnell Nachahmer fand.

Die Kapitulation der Kommunalpolitik
Nun gibt es in Mitteleuropa keine nennenswerten Probleme mit der Kanalisation und der Energieversorgung. Analphabetismus und Korruption halten sich in Grenzen, und soziale Ungerechtigkeiten sind selten lebensbedrohlich. Im Jahr 2008, also rund 20 Jahre nach dem Auftakt in Brasilien, beschäftigten sich in Deutschland gerade 67 Kommunen mit einem Bürgerhaushalt. Ganze 37 hatten ihn beschlossen oder eingeführt. Im März 2012 verzeichnet die Karte der Bürger-haushalte 237 Städte und Gemeinden. Diesen rasanten Anstieg dokumentiert die von der Bundeszentrale für politische Bildung betriebene Website buergerhaushalt.org. Und die Lokalzeitungen sind allerorten voll mit Forderungen von Kommunalpolitikern, diese Zahl rasch weiter steigen zu lassen.
Der Boom ist zugleich das Problem. Denn er fällt in die Zeit leerer Stadtsäckel. Völlig überforderte Kommunalpolitiker stehen ratlos vor ruinierten Kommunalfinanzen. Viele von ihnen, selbst hauptamtliche Bürgermeister, verstehen wenig bis nichts von Haushaltsführung. Und alle fürchten des Wählers Zorn, wenn sie Schwimmbäder und Bibliotheken schließen und den Busverkehr einschränken müssten. Da fällt der einst verpönte Machtverzicht plötzlich deutlich leichter.
Unter dem Deckmantel von Transparenz und Bürgerbeteiligung geht es vielerorts nur darum, den Rotstift an die Bürger weiter zu reichen. Kurz: Der Aufschwung der Bürgerhaushalte ist nichts anderes als die Kapitulation der Kommunalpolitik. Die Botschaft ans Volk: „Wählt uns für die Wohltaten und begeht die Grausamkeiten bitteschön selbst.“

Groteskes Schönreden
Im völlig herabgewirtschafteten Solingen haben die Stadtväter wenigstens den Mut oder die Verzweiflung, dies offen auszudrücken. Dort läuft das Beteiligungsprojekt unter dem Titel „Solingen spart“. In Bonn sprachen die Beamten von einer „bürgerorientierten Haushaltskonsolidierung“, was man beinahe für Satire halten könnte. In Ennepetal firmiert das Verfahren hochoffiziell als „Ennepetaler Sparhaushalt“.
Gemeinsam ist den Versuchen der Misserfolg – und ein groteskes Schönreden.
Die niedersächsische 20.000-Einwohner-Gemeinde Wildeshausen brüstet sich in einer Pressemitteilung, dass sich an ihrem Bürgerhaushalt 0,5 Prozent der Bürger beteiligt hätten. Und das – man höre und staune – sei immerhin mehr als in Köln mit 0,3 Prozent.
Remscheid brachte es in 14 Tagen mit einem Online-Portal zum Bürgerhaushalt auf 51 Vorschläge und 241 Nutzer. In Worms, wo das Verfahren noch bis 16. September läuft, jubelte die Stadtspitze über eine „rege Beteiligung“ – und meinte damit 170 Vorschläge in einer Stadt mit 82.000 Einwohnern. Im hessischen Darmstadt verzeichnete die Beteiligungs-Plattform zum Bürgerhaushalt nur 3.200 Nutzer in sechs Wochen. Das sind Zahlen, die auch ein lokaler Schützenverein mit seiner Website locker erreicht.
„Die Bürgerbeteiligungsprediger werden das natürlich bestreiten, aber das sind dieselben Leute, die vorher nicht definieren wollen, was ein Erfolg wäre“, schrieb der FAZ-Journalist Tobias Rösmann Anfang 2011 in einem Kommentar, als die Stadt Frankfurt einen Bürgerhaushalt ankündigte. Das trifft den wunden Punkt. Es gibt keine belastbaren Kriterien. Jeder Stadtkämmerer versteht unter einem Bürgerhaushalt, was er will. Oftmals wissen Bürger nicht, was mit ihren Vorschlägen geschieht, ob und wie sie umgesetzt werden. Ein Verfahren, das zu mehr Transparenz führen soll, ist selbst vollkommen intransparent.

Falsche Versprechen
Hinzu kommt, dass viele Bürgerinnen und Bürger nicht wissen, dass sie ohnehin nur über einen Bruchteil der Ausgaben beraten dürfen. Der Löwenanteil kommunaler Mittel ist nämlich für gesetzliche Pflichtausgaben reserviert. Nur die so genannten freiwilligen Aufgaben bieten Gestaltungsspielräume – und diese werden in der Regel von den Finanzaufsichtsbehörden bereits auf das absolute Minimum zusammengestrichen.
„Bei den Bürgern werden oft falsche Erwartungen geweckt“, berichtet Hanns-Jörg Sippel. Er ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Mitarbeit, die sich bundesweit mit politischer Teilhabe beschäftigt und auch Bürgerhaushalte intensiv begleitet. „Wer es richtig machen will, darf den Bürgerhaushalt nicht als Spar-Instrument betrachten, sondern als einen Ideenwettbewerb, um die Verwaltungsleistung in kleinen Schritten zu verbessern“, fordert Sippel. „Bürger registrieren sehr schnell, wenn sie als Sparkommissare missbraucht werden. Da braucht sich dann niemand über mangelndes Interesse zu wundern.“
Sippel nennt einige Grundregeln für ein gelungenes Beteiligungsverfahren. Erstens: Ein festes Budget zur Umsetzung der Bürgervorschläge. In Großbritannien, wo Bürgerhaushalte eine längere Geschichte haben, spricht man von „funny money“, also von „Spielgeld“, das bewusst für Quergedachtes aus der Bürgerschaft reserviert ist. Zweitens: Klare und transparente Regeln, wie die Bürgervorschläge be- und verwertet werden. Drittens: Eine realistische und bescheidene Zielvorgabe. Das gelinge in einigen Kommunen, beispielsweise im hessischen Groß-Umstadt oder im Berliner Bezirk Neukölln.
Das sind Ausnahmen. Die Regel sieht ernüchternd aus. Bürgerhaushalte kosten mehr Geld, als sie einsparen. Sie erzeugen Frust statt Engagement. Und vor allem: Sie werden mit ihrer katastrophalen Bilanz schon bald ein Argument für jene liefern, denen Bürgerbeteiligung schon immer suspekt war. Der Schuss geht nach hinten los.

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7 Kommentare

  1. Veit I.
    Veit I.
    13. September 2012 zu 07:25
    | Antworten

    Ich sehe die Sache ganz anders. Natürlich sind Solingen, Köln und Bonn nicht Porto Allegre oder Recife. Aber es geht doch auch darum, einen ersten Schritt zu gehen, Bürgermeinungen und Bürgersachverstand auf kommunaler Ebene überhaupt mal wieder sichtbar zu machen. In unserer Gemeinde jedenfalls wäre das so etwas wie eine politische Kulturrevolution. Über Bürgerhaushalte werden Menschen überhaupt wieder für Politik interessiert, sie machen sich Gedanken, werden kreativ, kommen in Kontakt mit der Verwaltung. Bürgerhaushalte sind ein erster kleiner Schritt, der es nicht verdient, in Bausch und Bogen verdammt zu werden.

  2. Ludwig Wanninger
    Ludwig Wanninger
    13. September 2012 zu 07:35
    | Antworten

    Es gibt vieles zu kritisieren, aber dieser Artikel gefällt sich selbst zu gut in seiner pseudoaufklärerischen Haltung, und er schwirrt an der Oberfläche dahin. Schade um die Lesezeit.

  3. Nils Jonas
    Nils Jonas
    13. September 2012 zu 09:51
    | Antworten

    Dieser Artikel enthält viel heiße Luft und zeigt wenig Ahnung von der Materie. Wo soll man anfangen?

    Mit der angeblich immer so furchtbar geringen Beteiligung. Etwa 150 Vorschläge in Worms mag nicht viel klingen, aber wie viele Vorschläge von Bürgerinnen und Bürgern zum Haushalt gab es denn vor dem Bürgerhaushalt? Richtig, gar keine. Einige hundert aktiv Teilnehmende scheint gering, aber jeder Forenbetreiber kennt die 100:10:1-Regel: auf 100 still Mitlesende kommen 10 aktiv Beiträge Schreibende und 1 Power-User. Das ist auch bei Online-Bürgerhaushalten so. Man sollte nicht unterschätzen, wie viele Menschen solche Verfahren nutzen, um sich tatsächlich (in aller Stille) über den Haushalt zu informieren, sich eine Meinung zu bilden, zu erfahren was ihre Mitbürger so umtreibt. Ohne Bürgerhaushalt sieht die Information der Öffentlichkeit zum kommunalen Haushalt etwa so aus: es gibt eine Stadtverordnetenversammlung (unter der Woche, vormittags) auf der im Wesentlichen Fachchinesisch zu Vorlagen gesprochen wird, die den möglicherweise interessiert anwesenden Bürgern nicht vorliegen. Was daran jetzt besser sein soll, als eine öffentliche Debatte der Bürger (der demokratische Kernvorgang schlechthin) erschließt sich mir nicht.

    Zweitens: Das angeblich unklare Verfahren. Nun eigentlich ist das alles gar nicht so unklar. Grundlegende Kriterien für einen Bürgerhaushalt kann man bspw. bei Sintomer, Röcke und Herzberg finden. Ein Bürgerhaushalt der keine Rechenschaft abgibt, was mit den Vorschlägen der Bürger passiert ist ein schlechtes und mangelhaftes Verfahren. Punkt.

    Drittens: Bürgerinnen und Bürger sollen nur die Sparentscheidungen legitimieren. Auch diess Argument hört man ständig, es wird aber nicht sinnvoller. Ja, manche Kommunen stehen finanziell mit dem Rücken an der Wand und ja, zum Teil ist dieser Druck und das Bedürfnis der Politik ihre Situation sichtbar zu erklären die Motivation für die Einführung eines Bürgerhaushalts. Aber ist das schlimm? Die Einsparung von Ausgaben geht die Bürgerinnen und Bürger genauso an, wie die Steuerung der Ausgaben. Zudem: Glauben Sie allen Ernstes, dass eine Bürgerschaft die über Jahre in einer hochverschuldeten Kommune über Einsparungen öffentlich diskutieren und mitentscheiden konnte, dieses Mitspracherecht einfach aufgeben wird, sobald wieder Geld zum Verteilen da ist? Sie unterschätzen die Menschen.

    Viertens: Ein Bürgerhaushalt sei ja nichts, wenn die Bürger kein eigenes Budget hätten. Auch das überzeugt mich nicht. Bürgerinnen und Bürger müssen sich mit den gleichen finanziellen Realitäten auseinandersetzen, wie auch die Verwaltung und die Politik in der Kommune. Ein eigenes Budget (auf Gesamtebene der Kommune) fördert gerade keinen ernsthaften Umgang mit den öffentlichen Mitteln – diese werden dadurch tatsächlich zu "Spielgeld" entwertet. Nein, die Bürgerinnen und Bürger müssen vielmehr die Möglichkeit haben, über das Gesamtbudget der freien Mittel einer Kommune mitzureden. Nur so werden die Bürger als erwachsene Partner auf Augenhöhe behandelt. Budgets bekommen schnell den Charakter von Taschengeld: "Hier Kinderchen, Eure 3,50€ für diese Woche. Viel Spaß beim verjuxen, aber kauft Euch bitte nicht nur Süßigkeiten. Mehr Geld gibts nicht, ihr könnt ja eh nicht damit umgehen."

    Fünftens: Beispiel Berlin-Neukölln… tja, ein schlechteres Beispiel hätte man eigentlich gar nicht raussuchen können. In Neukölln wurde zwei Jahre hintereinander ein Bürgerhaushalt durchgeführt. Von den Vorschlägen im ersten Jahr wurde gar nichts umgesetzt, ab dem zweiten Jahr hat man dann beschlossen, Vorschläge nur noch zu den Investitionen des Bezirks zuzulassen – und dass auch nur alle 5 Jahre. Das ganze Verfahren ist ein schlechter Witz. Es gibt keine Rechenschaft, keine zugänglichen Informationen, keinen Ansprechpartner – kurzum, es gibt keinerlei politischen Willen in Neukölln einen ernstzunehmendes Verfahren durchzuführen. Oder meinten Sie das vorbildliche und seit Jahren erfolgreich laufende Modellverfahren in Berlin-Lichtenberg?

    Ich möchte gar nicht behaupten, dass alle Bürgerhaushalte immer gut und richtig sind. Es gibt viele Punkte, an denen man sich über eine Verbesserung und Weiterenticklung Gedanken machen muss: die Frage der Verbindlichkeit, die verstärkte Einbeziehung von im Diskurs marginalisierten Gruppen (Bildungsferne, Migranten, Jugendliche bspw.), die Entwicklung von feineren Qualitätskriterien für solche Verfahren, eine sinnvolle Einbettung und Verzahnung in bestehende politische Prozesse und, und, und…. leider wird keines dieser tatsächlich spannenden Probleme in dem Artikel angesprochen.

    Beim Arbeitskreis Bürgerbeteiligung des Vereins Mehr Demokratie möchten wir derzeit genau an diesen Problemen arbeiten. Wir wollen – als Verein der für basisdemokratische Prinzipien und Mitbestimmung eintritt – überlegen, wie Bürgerhaushalte im Sinne der Bürgerinnen und Bürger weiterentwickelt und verbesserg werden können. Ich denke nur eine solche konstruktive Auseinandersetzung mit den neuen Verfahren der Bürgerbeteiligung hilft den Bürgerinnen und Bürgern weiter. Die Alternative wäre die Uhr zurückzudrehen und wieder bei Politik als geschlossener Veranstaltung einiger weniger Gewählter zu landen. Aus meiner Sicht keine attraktive Aussicht.

    Nils Jonas
    Mehr Demokratie e.V.
    Arbeitskreis Bürgerbeteiligung

  4. Stephan Eisel
    Stephan Eisel
    22. September 2012 zu 00:07
    | Antworten

    Der Beitrag deckt sich mit meinen Analysen http://internetunddemokratie.wordpress.com/2012/0

  5. Sven G.
    Sven G.
    22. September 2012 zu 06:50
    | Antworten

    Vielen Dank für diesen vortrefflichen Artikel!
    Das größte Problem bei Formen von naiven Beteiligungen ist der Zugang. Wer entscheidet über den Bürgerhaushalt? Wie werden diese Menschen angesprochen?
    An diesen naiven Beteiligungsmaßnahmen werden immer diejenigen Bevölkerungsgruppen einbezogen, die sich sowieso auf der Sonnenseite des Lebens bewegen. Andere Gruppen, die sich nicht oder gering artikulieren können, werden nicht berücksichtigt. Somit orientieren sich diese Methoden immer am bürgerlichen Mittelschichtsstandart.
    Das Einzige, was Bürgerinnen und Bürger hier lernen ist Bürokratie. Hier geht es nicht um die Geschicke Berlins, sondern darum, engagierte Menschen an der Abarbeitung von lächerlichen Detailfragen ihre kostbare Zeit verschwenden. So sind die letzten, vielleicht sogar kritischen, Kräfte gebunden und die Stadt macht weiter wie bisher.
    Die viel beschworene Bürgerbeteiligung ist auch aufgrund ihrer Finanzierung immer top-down organisiert und ist somit anfällig für die Instrumentalisierung von Politik und Verwaltung.
    Wenn z.B. Bürgerbegehren den Senatshaushalt betreffen, wird schnell deutlich, woher der Wind weht. Da ist nämlich plötzlich nichts mehr mit Mitentscheidung. Punkt. Noch Fragen?

  6. Stephan Eisel
    Stephan Eisel
    22. September 2012 zu 11:49
    | Antworten

    Zu Teilnahme an Online-Bürgerhaushalten genügt es, sich mit einer E-Mail-Adresse zu registrieren. Weder wird überprüft, ob es sich dabei um einen Bürger der betroffenen Kommune handelt, noch wird sichergestellt, dass sich nicht die gleiche Person mit mehreren verschiedenen E-Mail-Adressen mehrfach beteiligt.

    Im Zwischenbericht vom März 2011 zum Bonner Online-Bürgerhaushalt wird eingeräumt, dass 30 Prozent der Teilnehmer angegeben haben, entweder nicht in Bonn zu woh­nen (1705) oder keine Angaben zum Wohn­ort gemacht haben (1.871). In Köln gab 2009 ein Drittel keinen Wohnort an, weitere sieben Prozent vermerkten ausdrücklich, dass sie nicht aus Köln kommen. Aus den bisherigen Erfahrungen kann man schließen, dass bis zu einem Drittel der eingetragenen Registrierungen aus Mehrfachabstimmungen bzw. von Ortsfremden kommen

    Außerdem bevorzugt das Internetverfahren gut organisierte Interessengruppen: ein erheblicher Teil der Teilnehmer bei “Bonn packts an” ist 2011 und 2012 wurde on großen Bonner Vereinen aus den Bereichen Soziales, Sport, Kultur und Karneval durch gezielte e-mail-Aktionen in ihrer Mitgliedschaft mobilisiert. In Gütersloh stellte sich 2011 heraus, dass es der Vorschlag zur Einrichtung einer Berufsfeuerwehr nur durch gezielte Mobilisierung von freiwilligen Feuerwehren aus dem Umland auf Platz 1 geschafft hat.

    Aber selbst wenn man diese Probleme ignoriert und hinter jeder registrierten e-mail-Adresse einen ortsansässigen Bürger vermutet sowie Mehrfachregistrierungen ignoriert, ist die Beteiligung bei Online-Bürgerhaushalten vernichtend gering. Die Zahl der registrierten e-mail-Adressen betrug be­zogen auf die Zahl der Wahlberechtigten in

    Bonn 2012: 0,7 Prozent
    Frankfurt 2011: 0,7 Prozent
    Köln 2011: 0,9 Prozent
    Essen 2010: 0,8 Prozent
    Freiburg 2008: 0,8 Prozent

    Aachen 2011: 0,9 Prozent
    Köln 2009: 1,2 Prozent
    Gütersloh 2010: 2,1 Prozent
    Solingen 2010: 2,8 Prozent
    Bonn 2011: 4,7 Prozent

    Die formal angebotene alternative Teilnahme am Verfahren bei Post oder Telefonanruf bzw. einem PC in städtischen Gebäuden innerhalb der dortigen Öffnungszeiten wird praktisch nicht wahrge­nommen. Sie setzt zudem die Kenntnis der im Netz veröffentlichen Informationen voraus.

    Im übrigen stimmen keineswegs alle registrierten Nutzer bei allen Haushaltsvorschläge ab. So errei­chen die Un­terstützungs- oder Ablehnungsvoten für einzelne Sparvorschläge ein im Verhältnis zu Zahl der Wahlberechtigten nicht mehr messbares Niveau. In Bonn kam 2012 der am meisten unter­stützte Vorschlag unter Einschluss von Mehrfachabstimmungen und Ortsfremden auf nur 300 Stim­men, in Köln 2011 waren es 1046 Stimmen. Berücksich­tigt man, dass das Internet-Abstimmungs­verfahren vier Wochen lang rund um die Uhr, ortsunabhängig und ohne Alterskontrolle angeboten wurde, fällt diese kaum messbare Beteiligung besonders auf.

    Mehr unter: internetunddemokratie.wordpress.com

  7. Stephan Eisel
    Stephan Eisel
    22. September 2012 zu 11:49
    | Antworten

    Gelegentlich wird angeführt, trotz niedriger Beteiligung sei es mit keinem anderen Instrument ge­lungen, so viele Bürger zum städtischen Haushalt zu erreichen. Dabei werden die Besucherzah­len bei städtischen Informationsveranstaltungen mit der Internetbeteiligung verglichen. Dies blendet den Großteil vorhandener Bürgerbeteiligung über Vereine, Bürgerinitiativen und Partei­en aus.

    So stehen den in Köln 2011 registrierten 7.2000 e-mail Adressen alleine mehr als doppelt so viele Mitglieder der Kölner Ratsparteien gegenüber. In Bonn wurden 2012 insgesamt 1.740 e-mail-Adressen registriert. Die Bonner Parteien haben mehr als 10.000 Mitglieder, in 280 Sportvereinen sind über 70.000, in 25 Kulturvereinen ca. 25.000 Bürger organisiert und in der Bonner Stadtver­waltung arbeiten ca. 5.000 von Sparvorschlägen teilweise unmittelbar betroffene Mitarbei­ter, die auch am Arbeitsplatz am Online-Verfahren teilnehmen konnten. Selbst die Zahl der ehren­amtlichen kommunalen Mandatsträger lag höher als die Voten bei allen abgestimmten Sparvor­schlägen.

    Abgesehen von einer Evaluierung des Kölner Bürgerhaushaltes 2010 durch die Universität Biele­feld gibt es leider keine unabhängige wissenschaftliche Begleitung oder Auswertung von Online-Bürgerhaushalten. Dies ist umso problematischer als in vielen Fällen von den Kommunen die im­mer gleiche Firma „Zebralog“ mit der Durchführung beauftragt wird. Sie verfasst auch die jeweili­gen Berichte über das eigene Verfahren.

    Bedauerlich ist, dass auch die Bundeszentrale für politische Bildung bei ihrer gemeinsam mit der „Service­stelle Kommunen in der Einen Welt“ angebotenen Homepage http://www.buergerhaushalt.org von diesen Interessenkonflikten betrof­fen ist. Der Redaktionsleiter dieses aus Steuergeldern finanzierten staatlichen Informationsangebo­tes ist bezeichnenderweise zugleich geschäftsführender Gesellschafter der Firma Zebralog, die ein kommerzielles Interesse an dem Verfahren hat. Es verwundert deshalb nicht, dass auf dieser Websi­te eine fast ausschließlich positive Kommentierung von Online-Bürgerhaushalten dominiert und z.B. eine kritische Betrachtung der tatsächlichen Beteiligung der Bürger und der Manipulationsmöglichkeiten praktisch ausgeblendet bleibt.

    Fazit:

    Es spricht viel dafür, das Internet auch bei kommunalen Fragen als zusätzliche Informations- und Diskussionsplattform anzubieten. Dabei muss freilich immer bewusst bleiben, dass so nur ein kleiner, nicht repräsentativer Teil der Bevölkerung angesprochen wird. Abstimmun­gen im Internet aber sind das Gegenteil von demokratischer Bürgerbeteiligung, denn sie privilegieren eine kleine Internet-Eliten auf Kosten der großen Mehrheit der Bürger. Auch wenn die abschließende Entscheidungsbefugnis beim Rat liegt, vermitteln solche Internet-Abstimmungen eine pseudo-demokrati­sche Legitimität, deren Eigendynamik sich gewählte Mandatsträger eher nicht entziehen (können). Überzeugende Vorschläge aus der Bürgerschaft bedürfen keiner manipulativen Abstimmungsproze­duren im Internet. Sie wirken durch ihre inhaltliche Plausibität und solide argumentative Be­gründung.

    Mehr unter http://www.internetunddemokratie.wordpress.com

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