Retten wie Rüdiger

2. Juni 2011

Das Survival-Urgestein ist zwei Dutzend Male überfallen worden, kennt jede Tropenkrankheit, hat im Tretboot den Atlantik überquert, diverse Wüsten durchwandert und nebenbei einen Indianerstamm vor der Ausrottung bewahrt. Im ENTER-Interview erzählt Rüdiger Nehberg, warum Engagement und Adrenalin zusammengehören.

Herr Nehberg, 1980 haben Sie bei einer Survival-Reise im brasilianischen Urwald die systematische Verfolgung der Yanomami-Indianer entdeckt. War das ein Wendepunkt in Ihrem Leben?

Ja. Bis dahin war ich einfach aus Neugier gereist, aus Spaß am Abenteuer und am Risiko. Als ich dann in Brasilien Augenzeuge des drohenden Völkermordes an den Yanomami wurde, war das der Beginn meines lebenslangen Engagements. Ganz wichtig war der Film, den ich damals zusammen mit dem Münchner Filmemacher Wolfgang Brög gemacht habe. Ich habe undercover als Goldsucher gearbeitet, und Brög hat mit versteckter Kamera dokumentiert, was in Brasilien hartnäckig geleugnet wurde: das ganze Ausmaß der illegalen Goldsuche mit ihren fatalen Folgen für die Indianer. Der Film wurde im ZDF gezeigt, Greenpeace hat ihn tausendfach kopiert und an TV-Redaktionen in aller Welt verteilt, wir haben ihn bei der Weltbank und der Uno vorgestellt. Vor allem die Zusammenarbeit mit der Weltbank bewirkte später den entscheidenden Druck auf die Regierung in Brasilien.

Sie selbst sind so etwas wie ein High-Risk-Engagierter, der den Atlantik auf einem massiven Baumstamm (einer Schweizer Tanne), einem Tretboot, einem Bambusfloß überquert, um auf das Schicksal der Yanomami aufmerksam zu machen! Ist das Risiko der Preis, den man zahlen muss, um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen?

Es ist kein Preis, es ist eine Belohnung. Ich liebe das Risiko. Je ungewöhnlicher, desto besser, auch medienwirksamer. Die Medien, die Fotos vom Vordringen der Goldsucher und die ideale brasilianische Verfassung wurden zu meinen Waffen.  Unschlagbar. „Abenteuer mit Sinn“  wurde zu meinem Markenzeichen. Die Atlantiküberquerungen waren für mich aber nicht so riskant, wie es sich für Nicht-Seeleute, für Sesselhocker anhört. Ich hatte ein Gasttraining bei den Kampfschwimmern absolviert, meine Fahrzeuge waren unsinkbar. Selbst wenn das Gefährt zu Bruch gegangen wäre, hätte ich die Reste zusammenbinden können und wäre drüben angekommen. Es existiert eine entsprechende Strömung.  Die muss man kennen, dann kommt sogar ein Idiot in Amerika an.

…Sie übertrieben…

Vielleicht. Aber was stimmt: je verrückter das Fahrzeug, desto größer das Interesse der Medien. Man muss etwas bieten, wenn man sein Anliegen ins Gespräch bringen will. Etwas komplett Neues, etwas mit Nachrichtenwert.

Berühmt sind Sie als „Sir Vival“ geworden. Reisen ohne Hilfsmittel ist die wahrscheinlich nachhaltigste Form, unterwegs zu sein. Spielte das für Sie eine Rolle?

Anfangs zählte beim Survival nur der Selbsterhaltungstrieb, die Rückbesinnung und Aktivierung der Ur-Instinkte.  Ich wollte mir beweisen, dass ich mich von der Gesellschaft und dem vielen Luxus monatelang unabhängig machen kann, dass ich splitternackt im Urwald alleine klarkomme. Es hat mich glücklich gemacht, dass ich noch genauso funktioniere wie ein frei lebendes Tier. So kam ich von Torten zu Tortouren.

Aber was ist mit den Survivalfreunden und Naturliebhabern, die einmal um den Globus jetten, um durch den tasmanischen Urwald zu wandern? Die verbrauchen nur mit dem Flug das CO2-Äquivalent zu 120 Kühlschränken, die ein Jahr laufen.

In dieser Hinsicht bin ich ja selbst kein gutes Vorbild. Ich fliege zwangsläufig  sehr viel. Vor allem wegen meines aktuellen Weltprojektes gegen die Verstümmelung. Aber ich hoffe, dass das, was ich damit bewirke, wertvoller ist, als der Schaden, den ich anrichte.

Richtig ist, dass nicht jeder im Urlaub um den Globus fliegen muss. Jeder sollte seine Urlaubsplanung hinterfragen. Muss man nach Dubai fliegen, um auf den Dünen zu surfen, wenn man das an der Ostsee genauso gut kann?

Um auf Missstände aufmerksam zu machen, besuchen Sie die Länder und schaffen Öffentlichkeit. Wie aber sollen sich Urlauber verhalten? Soll man Länder meiden, die Menschenrechte mit Füßen treten, oder erst recht hinfahren?

Vom Massentourismus in solche Länder rate ich ab. Menschen werden in Hotels gepfercht und in Ressorts rund um die Uhr unterhalten, sie kommen gar nicht unter die Bevölkerung, lernen die Kultur und die Missstände nicht kennen. Anders sieht es mit Individual-Touristen aus. Sie können den Einwohnern signalisieren, dass es auch anders, vielleicht demokratischer geht. Sie können ihnen Mut und Hoffnung machen.

Reisen und Engagement gehörten seitdem für Sie zusammen. Was kann der normale Tourist unterwegs anpacken?

Dem Einzelnen rate ich, mit wachen Augen durch die Länder zu reisen, in denen Armut und Unrecht an der Tagesordnung sind. Vielleicht kann man sich eines der vielen Kinder, die morgens auf den Müllhalden arbeiten müssen und nie eine Chance haben zur Schule zu gehen, rauspicken und es zu seinem Patenkind machen, ihm zum Beispiel eine Ausbildung garantieren.  Dabei muss man sicherstellen, dass das Geld auch zielgerecht verwendet wird.

Sie haben einmal gesagt, Sie hätten nur vor Menschen Angst, nicht vor der Natur. Beim Menschen müsse man mit dem Schlimmsten rechnen. Woher nehmen Sie dann den Optimismus, dennoch etwas verändern zu können?

Weil es genügend andere gibt. Weil ich Optimist bin.  Bei meinen Projekten habe ich immer wieder genügend positive Menschen gefunden und mit ihnen gemeinsam die Erfolge erzielt. Aber wenn ich die Welt anschaue, dann wird mir schon manchmal bange. Der Egoismus, der Drang nach immer mehr Luxus und Fortschritt wird rasant größer. Diese Dekadenz und Habgier können uns schnell zum Verhängnis werden.  An Maßlosigkeit sind schon ganz andere Weltreiche zugrunde gegangen.  Wir haben die Intelligenz und das Knowhow, alles in den Griff zu bekommen. Wenn nicht, werden uns  Katastrophen das Denken abnehmen.

Seit 2000 engagieren Sie sich mit Ihrem Projekt „TARGET“ gegen die weibliche Genitalverstümmelung in 35 Ländern der Welt. Wie erreichen Sie dort die Leute, zumal bei einem so sensiblen Thema?

Ich komme als Beduine zu Beduinen, rede mit den Menschen auf Augenhöhe, ohne westliche Überheblichkeit, die mir auch nicht zusteht. Ich komme als Bittsteller, der Augenzeuge eines schweren Verbrechens geworden ist, das falsch mit den Heiligen Schriften (Koran, Bibel) begründet wird und damit sogar eine Diskriminierung der Religion darstellt.  Ich bitte die Männer, sich die die Bilder dieser verstümmelten Mädchen und Frauen wenigstens einmal anzusehen. Viele von ihnen werden blass, weinen und zögern nicht eine Sekunde, uns zu unterstützen. Denn was da geschieht, verstößt eklatant gegen höchste Werte des Islam.  Und über den Islam erreichen wir fast 90 Prozent der potenziellen Opfer. Zunächst sind das immer Einzelgespräche mit führenden Geistlichen. Niemand verliert dabei sein Gesicht. Mit diesen intimen Dialogen unterscheiden wir uns von den großen internationalen Organisationen. Wir haben große Delegationen erlebt, durchgestylt von der Kopflaus bis zur Schuhsohle, als würden sie Reklame laufen für eine Boutique. So kommt man sich mit seinem Gesprächspartner nicht wirklich näher. Da bleibt es oft beim Austausch von Floskeln.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Was konnten Sie bislang erreichen?

2006 haben wir die geistliche Elite des Islam zu einer Gelehrtenkonferenz in die Azhar-Universität (vergleichbar mit dem Vatikan der Katholiken) eingeladen. Das geschah der historische Durchbruch, als diese Männer ihre oft lebenslang vertretenen Meinungen geändert und den Brauch der weiblichen Genitalverstümmelung zu einem schweren Verbrechen gegen höchste Werte des Islam erklärt haben, zur Sünde. Meiner Frau Annette und mir hat das dann zwar zwei Bundesverdienstkreuze und viele andere Ehrungen eingebracht, aber die Botschaft verbreitet sich nicht. Die Scham ist größer als die Vernunft. Deshalb gilt mein ganzes Streben nur noch einem einzigen Ziel: ich möchte den saudischen König als Mitstreiter gewinnen. Wenn er die Nachricht von der Sünde auf großem Banner über der Kaaba in Mekka verkündet, werde ich das Ende des 5000 Jahre alten Spuks sicher noch erleben. Ich bin jetzt 76. Die Zeit drängt.

www.target-nehberg.de

Die Fragen stellte Henrik Flor.

Fotos: TARGET Nehberg

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